Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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BIS ZULETZT

Sie kennen, denke ich mal, diesen alten Mann, jedenfalls dem Namen nach und vom Bild, diesen teils berühmten, teils berüchtigten Schriftsteller, von dem lange fast alle dachten, er sei schon tot, in diesen Jahren, als er sich kaum noch an seinen siebzigsten Geburtstag erinnerte, weil der achtzigste ihm näher war und dann der neunzigste. Die wenigen, die sich um eine solche Sorte Gespenster kümmern, wußten es oft auch nur deshalb besser, weil sie unter der Rubrik „Fälschlich schon für tot gehalten“ nachschlugen und dort erfuhren, daß es ihn immer noch gab und er weiter schrieb - Notizen, häufig blumige und seltener bissige Anmerkungen, kurze Spiele mit Worten und fixen Ideen. Es waren die Jahre jenseits der neunzig, als sein Ruhm neu aufkam, und in denen ein Sprüchlein von ihm die Runde machte, glücklicher als über all seine Bücher sei er darüber, daß eine der Heuschrecken nach ihm benannt worden war. Ich hatte mich gefragt, was denn nun sei, wenn diese Art schon zu Lebzeiten ihres Namensspenders ausstürbe, aber er hätte vielleicht auf seine üblichen Hoffnungen verwiesen, daß doch manche totgeglaubte Spezies nach Jahrzehnten wieder gefunden wird und daß auch die ausgetilgten fortleben in sorgfältig präparierten und musealen Sammlungen beigesellten Exemplaren.
Es war in Venedig, wo auch sonst. Ich hatte mich beeilt, den am häufigsten photographierten und von mir am heftigsten gemiedenen Platz im Laufschritt zu überqueren, kein Blick in das historische Kaffeehaus, kein Blick für die kopierten und nun fast säurefesten Pferde. Ich wollte zum Landeplatz des Bootes, das zur Salute-Kirche geht. Ich wollte das und erreichte es auch. Was ich nicht wollte, war eine Störung meiner ruhigen, einigermaßen ereignislosen Tage durch etwas Unvorhersehbares. Ich wollte damals einfach leben, minimal existieren, von Tag zu Tag und ohne irgendwen zu sehen. Aber ich bekam nicht, was ich geordert hatte. Das Schicksal hatte es sich so eingerichtet, mir ein Stöckchen hinzuhalten und mir nachzuweisen, wie gut ich springen kann.
An der Abfahrtsstation wartete ein Paar – sie vielleicht in den Sechzigern, er sehr viel älter, vom Alter in jene weit vorgebeugte Haltung gebracht, in der wir uns wieder der Erde und der Vierfüßigkeit nähern und den Kopf nur noch anheben können wie die Hunde. Ein verlorener zahnloser Beller, der andere räudige Köter mit blutunterlaufenem Blick aussichtslos anstarrt. Ich sah die beiden an, wie ich immer den Menschen zusehe bei ihren Verrichtungen, nicht völlig gleichgültig, ein wenig verwirrt und belustigt und auf der Suche nach etwas, das es wert ist, kurz erinnert zu werden. Die beiden hatten sich auf eine Bank gesetzt und sprachen über die Kunstschätze in der Heilskirche. Vor allem der Mann sprach, aber ich mochte mich nicht herandrängen und so mußte ich mir manches Lückenhafte ergänzen. Es war wohl auch mehr ein Wiederholen von Gewußtem, ein Sich-Vergewissern über alle einstigen Eindrücke bei den vorherigen Besuchen und über die Einschätzungen in den zur Vorbereitung der Reise erneut gelesenen Vademecum-Büchern.
Dieser alte Mann hatte weiße geordnete Haare, kalte klare Augen, das Gesicht eines Soldaten, der eine straffe Haltung gehabt und sich allenfalls jenseits der Stunden des Dienstes ein freizügiges Leben erlaubt hatte, schmale Hände mit eher weiblichen feingliederigen Fingern. Seine Frau wirkte unauffällig, wie jemand der bewußt zurücktritt in eine unbelastete und unbelastbare Vermittelung, wie jemand, der aufgeht in der Aufgabe, die Sträuße in den Vasen im Blick zu behalten, ja der ganz und gar im Dienst für einen anderen, für einen einzigen Menschen verschwindet.
Als die von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit getriebenen Besuchergruppen und die ihnen an Eile und Ellbogenhaftigkeit nicht nachstehende bunte Menge der auf eigene Faust den Trampelpfaden folgenden Einzelreisenden und Kleinsippen sich auf das Boot drängten, wollte ich mich dem Paar bekanntmachen und ihnen meine Hilfe in diesem Gedränge anbieten. Da hatte ich durchaus schon bemerkt und mich erinnert, wer der Mann sein mußte. Aber es gelang mir nicht, mich zu äußern, auch nicht auf dem Boot und später in der Kirche, wo ich den beiden einige Zeit in einigem Abstand folgte. Ich konnte mich mit meinem Hilfsangebot und meinen eigenen Hoffnungen dem nicht nähern, der durch die Bombardierungen und durch das feindliche Sperrfeuer gegangen war und der Herrn H. die Ehre abgeschlagen hatte, sein Abgeordneter zu werden.
Er, der in meinem Alter gerannt und gesprungen war und der sich immer noch bewegte, schildkrötig und verstümmelt, hatte nie unter der heiligen irrsinnigen Lähmung jenes Mannes gelitten, der einen Moment in seiner Nähe gewesen war, ohne daß er ihn gesehen gehabt hätte und ohne daß er wußte, warum es ihn gegeben haben sollte.

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