Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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BOCK AUF GESCHICHTEN

Meine Tante ist eine ehrenwerte Frau. Warum sollte sie lügen, übertreiben, Geschichten erzählen? Sie haben recht - was sie mir berichtet hat, gibt es in siebenundzwanzig Versionen in der Schublade „Mythen von heute“ - Sie wissen schon, die fabelhaften Märchen vom geschenkten Porsche und von der Vogelspinne in der Yucca-Palme. Aber meine Tante sagt, sie hat alles selbst gesehen. Wer wird das bezweifeln? Manches gibt es vielleicht einfach mehrfach - als wirkliches Ereignis und als erfundene Flunkerei. Meine Tante sagt, sie war selbst dabei, als eine junge Frau mit ihrem Kind an die Kasse ging, bei Albrecht. Das Kind, ein Junge, so drei oder vier Jahre alt, saß in einem Einkaufswagen und trampelte in die Luft. Nur, in der Schlange an der Kasse wurde es knapp mit der Bewegungsfreiheit. Eine ältere Frau kriegte die hübschen kleinen Füßchen ab, in die Kniekehlen und ins verlängerte Kreuz. Sie bat ganz demütig die Mutter, doch nach dem Kind zu schauen, es zu ermahnen oder es festzuhalten. Aber die Mutter (jung, in einer lila Fliegenpilzjacke und einer rostbraunen Jeanshose) blaffte nur zurück: „Der Junge hat halt Bock !“ Sie ahnen, was geschehen wird. Ein jüngerer Mann, eher unauffällig gekleidet, aber doch mit einem Ring im Ohr, nimmt ein Glas Apfelmus aus dem Regal, schraubt den Deckel ab und gießt die gelbgrüne Masse der bockigen Mutter über die Haare. „Ich hatte Bock dazu“, sagt er als Kommentar, als habe er diesen Auftritt einstudiert. Die Mutter packt ihr Kind, läßt die Waren ungekauft im Einkaufswagen zurück und verläßt fluchtartig das Gelände. Mehrere Kunden klatschen Beifall. Die ältere Dame bezahlt das Glas Apfelmus. Meine Tante meinen Sie, hätte die Geschichte nur gehört und gäbe sie jetzt aus als wirklich von ihr erlebt? Oder sie glaube sogar, sie erlebt zu haben, und hat sie doch nur gehört? Es sei keine gute Geschichte, sagen Sie: Die Frau komme nicht gut weg in ihr. Sie wird von einem kleinen Männchen getreten, ist wehr- und hilflos (die alte Dame), ergreift die Partei des Mannes in spe (die Kindesmutter), wird von einem Mann besudelt und gedemütigt (noch einmal die Kindesmutter)? Meine Tante habe vielleicht eine stille Sympathie für männliche Gewalt und weibliches Leiden? Vielleicht haben Sie sogar recht. Aber die Geschichte hat sich doch für meine Tante so ereignet. So etwas passiert nun einmal fast jeden Tag, ob wir es wollen oder nicht.

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