Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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COKE IS LIFE

Die alte Frage, was denn das Leben eigentlich sei. Ist es Hemingways Vorlauf und Vorspiel zu dem schönen Finale, zu der auch „Tod“ genannten Aspirintablette? Ist es Gottfried Benns „niederer Wahn“, sein „Traum für Knaben und Knechte“? Alte Fragen finden ihre alten Antworten. Und auch dort, wo sich neue Antworten finden ließen (wenn es denn überhaupt eine Antwort oder einige gibt: „Gott, wenn es ihn gibt“) stehen automatisch mehrere neben- und gegeneinander, und das gehört dann ebenso zu einem uralten Dilemma, zu einem uralten Elend wie jenes fatale Gefühl, es gäbe erstens keine Antwort auf solche Dickschiff-Fragen, und zweitens sei jede Antwort, die jemand geben mag, gleich bedeutungsleer und bedeutungslos.
Aber das Leben, das wir nicht erklären können und vielleicht auch nicht erklären müssen, nicht einmal uns selbst, haben wir doch. Es ist ungefragt da (für uns?), bis es sich ungefragt aus dem Staube macht (für uns?). Wir leben, jedenfalls nehmen wir das an. Selbst wenn dieser Glaube an unser eigenes Leben eine Illusion wäre – er wäre immerhin nichts weniger als eine Illusion, noch dazu eine schöne und tröstliche. Mit dieser Illusion haben wir etwas, um uns daran zu halten – etwas, das gerade weil es so gefühlig, glibberig und zerfließend ist, nicht mehr kritisch auseinanderzulegen und aufzulösen ist und zumindest auf Lebenszeit einen imaginären Wurzelgrund schafft. In der allgemeinen wechselseitigen Bestätigung „ich lebe, du lebst, er/sie/es lebt, wir alle leben“ stellt sich eine gesellschaftliche Sicherheit her, zu der selbst die uns unbekannten Gemüsehändler in Brooklyn und Schanghai oder unser allerliebster ärgster Todfeind uns verhelfen. Vom „wenn die anderen leben, lebe ich auch“ bis zum Gottes- und Menschenbeweis „ich lebe, weil andere leben“ ist es nur ein kleiner Gedankenschritt, ein unkomplizierter Ausrutscher auf dem harten glatten Parkett der Logik. Und, ohne zu wissen, ob wir nun wirklich leben und was unser Leben wirklich ist – wir erleben einiges. Weil wir denken, leben wir (oder weil wir denken, daß wir leben?), erleben das Leben und nehmen als erwiesen an, daß dieses für den Gedankenlosen leer und seltsam unwirklich bleibt: „Ich bin jetzt seit achtzehn Jahren hier im Dorf. Es ging alles so schnell, wie im Fluge, als ob nichts gewesen ist.“ Und selbst das „ärgerliche Ding“ aus dem Offenbach-Orpheus, nämlich aufzuhören zu leben, ehe man gestorben ist, hat seinen Trost parat, wenn wir es hadesseidank nur am Nebenmann wahrnehmen und darin eine beglückende Differenz zu uns selbst finden. Wir ahnen leider nicht, was der Nebenmann oder die Nebenfrau über uns denken. Vielleicht wissen sie mehr über uns als wir. Vielleicht sind gerade wir es, die als Mümmelmumien und Wiedergänger nur noch bis zum nächsten Frühjahr Wacht am Sein halten, eingefroren und wie versteinert, eiserne Eis-Soldaten, die im ersten Tauwetter zusammensinken und zu Staub zerkrümeln werden.
„Nie etwas“ – also zu gut deutsch entweder nichts oder alles sei das Leben, hatte Friedrich Hebbel behauptet und das Leben zur „Kategorie der Möglichkeit“ ernannt. Haben wir nur eine Anrechtsbescheinigung auf Zutritt zu einem Wunderfestival in den Händen, das Versprechen eines Abenteuerausflugs und einer Ereignisexplosion, die erst noch kommen werden? Müssen Glück und Unglück erst noch aus dem rasanten Strom der Zeit gekrallt werden? Müssen wir im Walde tiefdrinnen oder auf buntbewegten Gassen oder in uns selbst das Versteck der Wundertüte suchen, oder aber steht sie schon im Nahbereich bereit und gilt es nur noch, aufzureißen, auszupacken, auszunutzen? Ich weiß nicht, was das Leben ist. Das Leben ist, was ich nicht weiß. Das Leben, ich weiß nicht. Aber das Leben ist ja Coke. Coke ist das Leben. Sagt man so. Und Coke wiederum ist nur ein Name, patentrechtlich geschützt, definitiv festgelegt, jedoch zugleich flüssig und ätherisch, ungreifbar und unbegreifbar. „Wer leben will, der muß was tun, das weiß der Hahn, das weiß das Huhn.“ Also – was tun! Also was tun? Das süße Gluckerzeug, das sich ohne Glas und ohne Mund in einen klebrig austrocknenden Schmutzfleck verwandelt, hat uns Zuspätgekommenen kein Kokain mehr zu bieten, keinen Heldenstoff Heroin, kein schlafgöttliches Morphium, aber dennoch hängt derlei drin in dem raffinierten Namen und den inneren Abziehbildchen: die Flucht in Vergessen, Hip-hop-Räusche und paradiesische Zustände, die nie enden sollen.
Coke wandelt sich – wandelt es uns ? Auch wenn wir (ihr alle, ihr müden Drohnenkrieger und ihr ausgebrannten Volldampffrauen, ich rede von euch!) uns kein Stückchen ändern, es wandelt sich selbst, durchaus genügsam und selbstzufrieden – bei jedem profanen Abendmahl, on the beach und on the rocks, schon in unserem Mund schlägt das Glitzern der kleinen Luftperlen, der erdig-kompostige Farbton, die knallige Kühle um in ein wenig Zuckergeschmack und eine provisorische Erfrischung. Aber es ist ja nicht jenes Wasser, das alle Offenbarungen am Ende umsonst spenden und das die ewige Durstfreiheit garantiert – es hält nur von hier bis jetzt, von sofort bis gleich. Das Leben übrigens auch. Denn das ist, wie die Griechen wußten, zusammengeballt ein First-Time-Drink und der die das Letzte, fleischzerfressend - (die alte Mythe von der in Cola getränkten Ratte, die nach drei Tagen vollständig verschwunden ist mit Haut und Haaren und Knochen, die schöne Phagozyten-Epiphanie), die Geste bleibt in der Luft und im freien Raum stehen und stecken, wenn das Glas ausgetrunken und der Trinker abgetreten ist. Eine Vision einer das Glas schwenkenden Staubhand, „auf dem Foto siehst du meinen Verflossenen“, meine Ex, „Ex und hopp“ stand auf den braunen Flaschen am Ende der sechziger Jahre, teure museale Raritäten, Leitfossilien, wenn einer so eine Flasche noch in einem Buchenwäldchen findet und in seine Vitrine stellen kann, was es alles gab, aber auch die Coke-Flaschen werden ihre Käufer finden in fünfhundert Jahren. In fünfhundert Jahren werden sie überall auf der Welt ausgegraben werden, zwischen Swakopmund und Glasgow, immer eine einzige Flasche, eine wie die andere, gleich mit sich und gleich mit allen, gleich leer, ausgetrunken, ausgetrocknet, aufgebraucht. Nach uns wird immer noch Coke sein.

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