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TAGEHEFT
ZUM TAGEHEFT
In den Tageheften habe ich seit dem 1. Mai 2011 Tag für Tag festgehalten, was mir wichtig war - in einem oder mehreren Sätzen. Hier im Netz sind diese Texte seit April 2013 erschienen. Das erste Tageheft (2011-2012) ist 2016 als Buch erschienen, das zweite (2013-2014) 2017, das dritte (2015-2016) 2018, das vierte (2017-2018) 2019, das fünfte (2019-2020) 2021, das sechste (2021-2022) 2023, das siebte (2023-2024) 2025 (siehe unter AKTUELLES).
1. Juli 2025
Das wichtigste Element der Gerechtigkeit ist ihre grundsätzliche Unerreichbarkeit.
2. Juli 2025
Sensibilität gegenüber Schlägern ist gut und schön, aber eine Faust sollte man schon haben und sie nicht verstecken.
3. Juli 2025
Versprechen Sie sich nicht zuviel von einer Reaktion – sie kann dauern und Sie werden sich wahrscheinlich wundern, was dann zutage tritt.
4. Juli 2025
Ein Zimmer kannst du abschließend einrichten, einen Staat so wenig wie eine Wildnis.
5. Juli 2025
Man kann die große Masse lange reizen und sie abschrecken von einer ernsthaften Gegenwehr, aber das häuft nur noch mehr Explosivstoff an und verzögert die Entladung.
6. Juli 2025
Achtung gegenüber dem Feind bedeutet, stets angemessen zu antworten, ihn weder zu ignorieren noch unnötig zu schonen.
7. Juli 2025
In dem Wahn, es sei möglich, kein Kind zurückzulassen und allen Eltern in allem zu gefallen, zerstören sie die Lebenschancen einer Mehrheit, die sie bis auf weiteres dumpf erduldet.
8. Juli 2025
„Ja“, sagte der alte Anarchist, „Bomben habe ich damals nicht geworfen und werfe sie auch heute nicht. Aber ich war ein Staatsfeind und bin es noch. Was sollte ich sonst sein?“
9. Juli 2025
Wer gesunden arbeitsfähigen Menschen regelmäßig mehr gibt, als sie brauchen, um nicht zu verhungern, ohne daß dies Lohn für geleistete Arbeit oder Vorschuß darauf ist, zwingt sie in eine erlernte Hilflosigkeit. Das Ziel muß immer der Staatsbürger sein, der in der Bilanz mehr für den Staat tut, als er von ihm erhält.
10. Juli 2025
Wie unendlich schwer es ist, eine unabhängige neutrale Stellung einzunehmen. Unmöglich ist es, gleichzeitig auf beiden Seiten zu stehen. Was gerade noch erreichbar ist, ist ein Verständnis für die Motive aller Beteiligten – verbunden mit der Einsicht, daß dies niemanden verschonen und retten kann.
11. Juli 2025
Der Rang der Kreuzritter entsteht aus der Vergeblichkeit ihrer Feldzüge.
12. Juli 2025
Wer meint, in einem Konflikt gleichzeitig auf beiden Seiten stehen zu können, der macht sich nicht nur Illusionen, sondern verrät beide Seiten. Möglich ist es natürlich, ein Konfliktgebiet zu verlassen, auszuwandern nach Spitzbergen oder Tahiti und es hinter sich zu haben. Aber wer bleibt, bleibt gezwungen zur Parteinahme. In der Provinz Posen konnte man es einhundertfünfzig lang relativ folgenlos als Pole mit den Deutschen halten oder als Deutscher mit den Polen. 1918/19 war es eine Sache des Entweder-Oder, als die deutsche Seite verzweifelt und vergeblich auf die die deutschen Soldaten hoffte, die angesichts eines betrügerischen Waffenstillstands ihren Eid brachen und sich feige davonstahlen. Nach 1920 galt diese Konstellation für die verbliebenen Deutschen noch mehr.
13. Juli 2025
Wer das Recht der Israelis auf ihr ungeteiltes Jerusalem bestreitet, wer in einem einzigen israelischen Staat mit Minderheitenschutz und unanfechtbarer jüdischer Dominanz unter den möglichen Ausgängen des Streites um das Heilige Land die einzige sowohl wünschbare als auch realistische Lösung sieht, der muß den Palästinensern als ewige Minderheit eine ewige Garantie ihrer Minderheitenrechte einräumen. Sie kann allerdings nur für diejenigen gelten, die den Unheiligen Krieg beenden, auf alle Suprematieansprüche verzichten und sich einfügen in die gemeinsame Gesellschaft.
14. Juli 2025
Man kann es nur als zerebralen Defekt eines Menschen beschreiben, wenn er die Mordverbrechen in den Diktaturen leugnet, die auch durch die weniger zahlreichen analogen Vorgänge in den Demokratien nicht gerechtfertigt werden. Ehe man über Notwendigkeiten sprechen kann, muß erst einmal das faktische Vorkommen akzeptiert und annähernd beziffert werden. Natürlich gab es etwa in der DDR amerikanische Spione – aber rechtfertigt das den Terror gegen sozialdemokratische Genossen und dissidentische Kommunisten? Rechtfertigt es Ulbricht, daß er verglichen mit dem großen Massenmörder Stalin nur in die Hilfsarbeiterkategorie gehört? Rechtfertigt es Stalin, daß er als mitwirkender Mitarbeiter und Komplize Lenins hineingeriet in eine Revolution, die Ergebnis des Krieges und am Rande auch der Begünstigung durch das deutsche Hauptquartier war? Abzutreten und aus einem mörderischen Verhängnis zu flüchten ist in den meisten Fällen möglich. Wer aber dabeibleibt auf Gedeih und Verderb, der beklage sich nicht. Allerdings wird meist verspätet und Jahrzehnte später abgerechnet.
15. Juli 2025
Stalin war durch seine bedenkenlose Brutalität und seinen beschränkten, auf das nächste Ziel fokussierten Blickwinkel der ideale Bankräuber. Als Politiker hatte er Erfolg in Affären, die ähnlich rapide und unkompliziert verliefen, etwa bei der Ausschaltung der Konkurrenten oder in seinem Rundumschlag gegen angebliche innere Feinde. Er erwies sich als Holzkopf in allen langfristig strategisch zu entscheidenden Fragen. 1945 verpaßte er so die Chance, den für Rußland ausschlaggebenden Verbündeten in Mitteleuropa zu gewinnen. Bedingung wäre gewesen, Polen zu rekonstruieren als Binnenland ohne die 1920 eroberten Gebiete, jede Plünderung und Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten – notfalls mit härtesten Strafen – zu unterbinden, Reparationen und Demontagen in Deutschland durch ein zehnjähriges Schuldenmoratorium vorläufig abzuwenden, auf jeden Revolutionsexport zu verzichten und schnellstmöglich eine neutrale deutsche Regierung zu bilden, um dieser die inneren Regelungen der Versöhnung und des Wiederaufbaus zu übertragen, sowie sie an den Friedensvertragsverhandlungen zu beteiligen. Mit der gegebenen Staats- und Militärgewalt wäre das durchsetzbar gewesen. Wäre es gerecht und ideal gewesen? Na ja. Die erste Pflicht eines Politikers ist immer, für sein Land mit möglichst geringen Opfern Erfolg zu haben. Einige hundert, selbst einige tausend wegen ihrer Vergehen exekutierte sowjetische Soldaten und polnische Freischärler fallen als Schuldige und Verblendete nicht ins Gewicht gegenüber hunderttausenden vergewaltigten Frauen und ein bis zwei Millionen deutschen Vertreibungstoten. Stalin hätte einiges Gegeifer der Ehrenburg & Co. ertragen bzw. untersagen müssen, aber die Intellektuellen passen sich erstens im allgemeinen zügig den gegebenen Machtverhältnissen an und zweitens hätten sich ihnen bei einer Mitteleuropa-Wendung beträchtliche materielle und kulturelle Möglichkeiten geboten. Dem Weg zum sicheren Scheitern, den Stalin stumpf und dumm einschlug, stand bei allen Risiken die große Chance eines großen Sieges und des Eintritts in eine Friedensepoche gegenüber.
16. Juli 2025
Historische Größe hat nichts mit Moral und Humanismus zu tun. Sie bemißt sich an den Effekten.
17. Juli 2025
Nur Leute, die innerlich unten sind, wollen kompensatorisch nach oben.
18. Juli 2025
Bleibe in einem Sicherheitsabstand neben dem Feld stehen und schaue dir die Rasenden an.
19. Juli 2025
Von jeder historischen Figur existiert ein Doppelbild. Siehe den Blutsäufer Napoleon, „der Hölle wie entsprungen“.
20. Juli 2025
Beugte Goethe sein Knie vor dem Herrscher Frankreichs und dem Zerstörer des alten Europa, um seine eigene Person zu erheben und zu erhöhen, um sie einzureihen in die Weltgeschichte? D’Enghiens Todesschrei ist da nur eine Randnotiz für kurzes Zürnen.
21. Juli 2025
Gibt es eine Strafe für Ignoranz und Verleumdung? Wie sollen die Dichter diejenigen strafen, die sich weigern, ihre Bücher zu lesen oder die sie für eigene Zwecke mißbrauchen und verdrehen? Weil wir Dichter dermaßen ohnmächtig sind, können wir mit Fug und Recht erklären, daß wir nicht verantwortlich sind für unsere Werke und deren eventuelle Folgen. Unsere Bücher sind nicht von uns und für uns.
22. Juli 2025
Was wir tun, ist immer zu wenig. Wir ruhen uns aus nach Unterbrechung der Arbeit – mit einem trügerischen Gefühl der Vollendung.
23. Juli 2025
Was wir vollendet nennen, ist eine Stufe.
24. Juli 2025
Das Schreiben: Unendlich, nie zu beenden.
25. Juli 2025
Auch meine Romane sind nur Kapitel eines einzigen Romans.
26. Juli 2025
Man muß ja den Profiteuren des Gangster-Rap nicht, wie einige es vorschlagen, prophylaktisch eine längere Rehabilitationskur in der Psychiatrie angedeihen lassen. Eine konsequente Ächtung und eine hundertprozentige Steuer auf alle ihre Produkte dürfte bis auf weiteres genügen.
27. Juli 2025
Nimm die kriminelle Aktion ganz einfach als Appell, vor weiteren bewahrt und sicher untergebracht zu werden, bis die Wiederholungsgefahr definitiv gebannt ist.
28. Juli 2025
Könnte es sein, daß Anwälte des Staates, von sich und ihren eigenen Bereicherungsabsichten ausgehend zu ihrer Sicht des Angeklagten kommen? Rückgratverkrümmung als Berufskrankheit?
29. Juli 2025
Wann wird es mehr als ein oder zwei deutsche Schriftsteller geben, die von sich sagen: „Ich könnte mich irren. Meine Haltung könnte wie auch die jedes anderen falsch und krumm sein. Wenn ich anderer Ansicht bin als ein anderer, will ich gegen ihn streiten und polemisieren, aber ich werde mit aller Macht sein Recht verteidigen, seine in meinen Augen falschen Auffassungen zu vertreten. Boykotteure und Niederschreier werde ich eigenhändig verprügeln.“
30. Juli 2025
Wer nicht mit sich ins Gericht geht, wer nicht sein Leben lang unter Waffen, im Kampf und kampfbereit bleibt, sollte als Künstler ins dekorative Fach wechseln, zu den Fußnotenerklärern.
31. Juli 2025
Ein unumstrittener Autor ist eine überflüssige Karikatur.
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