Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Warum Photographien?

Mein Photographieren (im Sinne einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem, was vor meinen inneren oder äußeren Augen war und auf einem Negativstreifen eingeätzt übrig blieb) geht zurück bis in die Mitte der achtziger Jahre. Vorher waren die üblichen Gelegenheitsfotos als Versuche familiärer oder freundschaftlicher Vergewisserung und die zahllosen Schnappschüsse aus der Hüfte, mit denen ich mir damals schon Anhaltspunkte für meine Geschichten und Gedichte fabriziert habe – aufgehobene Momentmerkmale, die all die bösen Lücken auffüllen mußten, die das Verdrängen der Niederlagen, das Zurechtbiegen krummer Wege und das Zumüllen des Gedächtnisses mit Ersatzfetzen und Deckerinnerungen zurücklassen.

Zu photographieren ist für mich ein unausweichliches Ergebnis meiner nicht ungewöhnlichen, aber ungewöhnlich ausgeprägten Neigung, mit den Augen tatsächlich zu sehen, genau hinzublicken, hinter den Fassadenkulissen und unter den Verpackungsschichten die abgesunkenen Vorkommnisse und Vergangenheiten zu suchen. Das Sehen, die Sicht auf die Welt, hat mich stets mehr interessiert als all das, was sich nach dem Auslösen einer Prozeßkette chemisch-physikalischer Natur an kleinen Schritten anschließt. Am Ende liefern diese doch nur einen schwachen Abglanz des ursprünglichen inneren Bildes, der niemals sichtbar zu machenden Vision desjenigen, der mit dem Auslösen sich erlöst hat von einer herausdrängenden, überschießenden Phantasmagorie.

Auch in der Werbung, in den Plakat- und Promotionswelten geht es immer nur um Bilder, um Lügen, Schwindeligkeit und trickendes Verschwinden-Lassen. Das habe ich versucht einzufangen: Figuren tauchen auf und ab, gehen unter, sind in Stücken noch und wieder an Deck, Zeit-Reisende erscheinen aus vergessenen Jahren, die an so etwas wie an eine auf den Hund gekommene Jugend erinnern. Alle Daten und Fakten sind genau festgelegt und doch komplett erfunden – eine Fiktion, die NEIN sagt zu aller Sachrichtigkeit und der es Spaß macht, zu hintergehen, sich hinter die gerade aufgeschlagenen und angesagten Vorderseiten zu begeben. Erst recht dort, wo für Politik geworben wird und das als Konsument, Mitbürger und Stimmkalb zu neuen Höhen emporgeputschte Opfer fröhlich aufgefordert wird, sich den schwarzgrauen Himmel blaugrün schwätzen zu lassen, lohnt es sich, den Dingen auf jenen Grund zu gehen, an dem die Versprechen und Luftbuchungen zu Papier zerfallen und allenfalls noch eine lange Nase lacht. Wenn die idealen Lebenszwecke ruckzuck sich auflösen in blanke Nichtigkeit, dann scheint es geboten, den Dingen auf den Fersen zu bleiben und den weichen papierenen Brei zu durchstoßen, bis die harte Faktizität dahinter offenbar wird: Die vierte Klasse sozusagen, die Holzklasse im Viehwaggon, das harte unbestechliche Unter-Holz, an das die Werber ihre nassen Träume und ihre plattgewalzten Plastiktrockenblumen kleben und das sie und ihre Produktprojekte spielend überdauert. Aber diese mütterliche Materie kann nicht nur gesehen werden von oben her, aus dem Gegensatz zu all den aufgeblasenen, phrasengeblähten Idealismen, sondern auch von ganz unten, aus sich selbst heraus - also als ein Ding, das nur für sich selbst da ist und für niemand sonst, das allenfalls noch (eine Art Seiten-Aspekt sozusagen!) anzuschauen ist als Farbe, als Form-Frage, als pure Malerei. Vor diese Verschlossenheit, aus der nichts folgt und in die nichts eingeht, noch ein Blechschloß zu hängen, ist ein kleiner Scherz am Rande.

Wenn es der Reiz der bunten Papiere ist, für eine Geschichte voller Geschichten zu stehen, so ist in dieser Hinsicht die tote Natur tatsächlich tot und reizlos. Und doch sehen wir in sie hinein, sehen unsere Träume und fixen Ideen in sie hinein: etwa die Chiffren einer nicht mehr entzifferbaren frühen Schrift in Schnittholz oder einen Anklang einer Paraphe in ein Stück Mauerwerk mit Spuren darauf, bei denen es sich nicht so ganz einfach sagen läßt, dieses hier ist schon gewesen, ehe jemand dazukam, und jenes hat dieser Jemand dazugetan, das hat er gestaltet und verunstaltet. Oder auf dem Gemachten, dem Ausgearbeiteten, werden die Farbreste zu einer Art geschecktem Schuppenkleid. Oder es bleibt offen, ob Haut tatsächlich Haut ist oder nicht doch ein Kunstprodukt, ein fabriziertes Rätsel. Auch auf den Bildern, die nichts anderes zeigen, als das, was sie zeigen, ist Übergang und Metamorphose, bewegt sich die Brandmauer auf die Brände zu oder treiben die vielen, viel zu vielen kleinen Pflanzen in den ewigen Urschlamm des Verwesens. Mindestens in unseren Nachtgedanken, mindestens in unseren Welt-Bildern werden wir an das, was war, erinnert, begegnen wir Resten und Spuren. All dieses Zugefügte ist ebenso wirklich, wie der schöne Spiegel, der die Wirklichkeit einfängt und einsperrt und nur einen Ausschnitt zuläßt – übrigens einen Ausschnitt des im Morast versinkenden Venedigs, das wie keine andere Stadt Steinbruch und Sinnbild für das Vergangene und das Vergehen ist. Über diesen Morast wie über sonstige Moräste spannen sich luftig-bunte Bögen, die aber, wenn sich über ihnen die ersten schwarzen Wolken in Marsch setzen, auch nicht von der Stelle kommen.

Die meisten meiner Bilder sind menschenfrei. Um so wichtiger sind mir selbst jene Porträts von Personen, die auch dann für sich und nur für sich stehen, wenn sie sich zusammentun und sich nahe sind. Meist sind wir ohnehin jeder an einem anderen eigenen Ufer und in einem anderen speziellen Film, vor Ruinen oder vor niemals fertigen Neubauten darauf wartend, daß ein Erlöser uns gnädigerweise dort abholt, wo wir jetzt gerade stehen und vielleicht bis in alle Ewigkeit stehenbleiben dürfen. Wir sind eins mit uns und doch mehr und weniger als eins, wir blicken nirgendwohin wie der Junge, der jedenfalls für das Märchen noch kein Mensch ist, oder scharf in die Augen des Zuschauers wie der Alte, der nach ebendieser Quelle keiner mehr ist. Oder wir verschweigen uns ausgesprochen beredt jede Menge von Geschichten, Romanen, Romanzen wie der offenherzige Fremde und die hinter einem Glas, das vielleicht zu ihr gehört und vielleicht auch nicht, fast vollständig verborgene Frau. So sinnlos es ist, gegen die fortrasende Zeit und inmitten der Weltkatastrophen etwas ganz für sich behalten zu wollen und sich abzugrenzen gegen das Da-Draußen, gegen die fern-feindliche Welt – dieser endlos und überall wiederholte Versuch hat bei aller Lächerlichkeit das durchaus Heroische eines Räubers, der nur sich selbst beraubt, wenn er sich hinter Zäunen und Herrschaftszeichen in Privatheiten retten will. Vielleicht sind es ja doch gerade die Zeichen, die Schilder, die Worte, in denen der Mensch lebt, in denen das vielfach verlorene und vielfach gesuchte Menschliche wiederzufinden ist – Bilder, die dafür stehen, was wir auch sind und was wir noch alles sein könnten.

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