Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

Romane · Kurze Prosa · Lyrik · Essays · Kinderbücher · Theatralisches
Künstlerische Photographie · Kopier-Kunst · (Material)Bilder



Leseprobe zu:
Mina al-Mahdi. Ein Weg hinab

28. 11.
Mein Schiff hat Mina verlassen. Die graue Mole liegt hinter uns, das schmale Hafenbecken, die Ölspuren in einem Wasser, das immer noch voller gelb und rot leuchtender Fische war. Wie oft ich den Kopf hinabbog, kurz die Luft anhaltend oder auch länger mit einem Schnorchelrohr. Mina al-Mahdi, die in hellem kaltem Blau gehaltene Stadt, in der ich keine Fliegen und keine Schmetterlinge sah. Man sagte mir, Insekten flögen niemals gegen den Himmel und gegen das Meer und hier gäbe es nur das Blau des wirklichen Meeres und das Blau des Scheinhimmels unter dem wirklichen Himmel. Als ich antwortete, dadurch sei die Stadt weniger lebendig und weniger voll mit leisen Lauten, entgegnete der Torwächter, dies sei allen bewußt und durchaus erwünscht.

29. 11.
Ich muß meine gestrige Eintragung korrigieren. Ich bin noch nicht abgereist, sondern habe dies bis auf weiteres verschoben. Der Grund ist, daß die Dinge sich änderten. Die Sachen sind nicht mehr die Sachen. Die Zeit endet, in der ich glauben konnte und außerhalb der Gefahrenzone war. Ich hämmerte mit der Faust gegen die Tür, verstauchte mir den Fuß vor blanker Wut, randalierte, obwohl die Tür vielleicht nicht einmal verschlossen war. Irgendwann kam mir der Gedanke, daß es eine Gnade sein könnte, wenn eine abgesperrte Tür mich vor dem bewahrt, was hinter ihr liegt, und daß ich aufhören muß, überall nur Zeichen zu sehen.

30. 11.
Vielleicht die letzte Wespe dieses Jahres. Ich zertrat sie unbeabsichtigt, weil ich sie für einen Brot- oder Fruchtrest hielt. Wäre es die erste des Frühlings gewesen, hätte ich es kaum bemerkt. Ich war auf dem Markt. Die Gesichter der mir Entgegenkommenden waren alle gleich, alle nur ein einziges Gesicht. Nein, sie schienen mir nicht einfach nur gleich, sie waren es, und es ist nicht auf diese Stadt beschränkt. Es gibt seit längerem unter allen Menschen nur noch zwei Gesichter - das meine und das der anderen. Für mich jedenfalls.

1.12.
Die Figur des sterbenden Gottes an der Wand: Von Tag zu Tag scheint sie schwächer und blasser zu werden und in sich hineinzuwachsen, in eine unerreichbare Kleinheit. Als verschwände ein Fleck in der Wand. Die Reinemachefrau kommt. Ihr Kind schiebt den Putzmittelwagen. Ich bemühe mich darum, dieses Kind wohlwollend zu behandeln. Ich lächele es an und flüstere ihm ins Ohr: "In einer halben Stunde werde ich nicht mehr wissen, daß du hier warst und daß es dich gibt." In der Nacht wird über meinem Kopf getrampelt. Ich rufe mehrmals "Ruhe da oben", ohne daß ich eine Wirkung bemerke. Die vielen Füße, Völkerschaften und ganze Heerzüge gehen über mir, durch salzspurige Bogentore im Gemäuer, über Diwane und Seidengalerien hinweg. Ehe ich dazu komme, gegen die Decke zu schlagen, bin ich eingeschlafen. Ich träume von einem leeren Mordhaus, in dem die Eindringlinge als weiße Engerlinge in einem trüben Sud treiben. Später ist das Haus leer, ohne daß ich weiß, ob dies gefahrvoller oder gefahrloser ist. Ich schlafe ein in diesem Traum und werde von einer einstürzenden Wand erschlagen.

2. 12.
Als mein Bruder seinen Gehirntumor bekam, sagten alle "der arme Kerl" über ihn und "du armer Kerl" zu ihm. Er lächelte fein und antwortete: "Es macht mir nichts, ich merke es doch gar nicht." Dies schien allen für Undankbarkeit und einen Mangel an Manieren zu sprechen. Ein Streifenwagen fährt vorbei. Die Sirene ist rot, obwohl sie blau sein müßte. Ob dies eine Üblichkeit dieses Landes ist oder ob es sich um einen besonderen Wagen oder vielleicht sogar um eine optische Täuschung handelt, ist nicht zu klären, weil ich in diesem Land sonst nicht auf diese Dinge geachtet habe und vermeiden will, mich unwissend zu zeigen. Wer sich hier eine Blöße gibt, gefährdet seine Unversehrtheit. Mein Kopf ist oben offen. Es gibt keine Grenze zum Firmament.

3.12.
Ich blicke auf die Uhr, kann aber die Zeit nicht erfassen. Es sind Zahlen zu erkennen, und auch die Lage der Zeiger ist nicht zweifelhaft. Was hindert mich? Eine Hemmung des Sehens oder des Sprechens? In meiner ersten Zeit in Mina hatte ich bei einer italienischen Familie gelebt, als Untermieter. Als Untermieder wäre auch schön gewesen. Ich habe eines Tages alle ihre Sachen verkauft, aus meinen zwei Räumen, aus ihren vierzehn Räumen. Als es herauskam, habe ich dem den Bericht aufnehmenden Beamten gesagt: "Sie waren ohnehin nichts mehr." Dann habe ich ihn mit dem Erlös aus dem Verkauf bestochen und mir so die Freiheit erkauft.


 zum Seitenanfang