Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Leseprobe zu:

Von einem Ton und dem Verschwinden dieses Tones

An einem Abend, es war ziemlich spät geworden ohne daß allzuviel geschehen wäre an diesem Tag, war an dem alten Bahnhof, da wo der letzte Zug gefahren war als mein Großvater noch ein Kind war, ein gräßlicher Ton zu hören gewesen, über die ganze Stadt hinweg, von jetzt auf gleich. Wie das so ist mit Scheußlichkeiten und all dem, was man lieber nicht hört, stellten die Leute das Radio lauter, schlossen die Fenster und die Türen (es war noch Sommer, der letzte schäbige Rest des Sommers) und warteten auf den wunderbaren Augenblick, in dem die Lästigkeit aufhört und wieder Ruhe ist. Jeder weiß, daß irgendwann der Feierabend kommt und die kreischenden Maschinen abgestellt werden, kurz bevor die Arbeiter nach Hause gehen. Oder die Straßenbahn ist endlich um die Ecke und kaum noch zu vernehmen. Noch schneller ist eine Explosion vorbei, wenn sie überhaupt eintritt. Jeder weiß das, aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal stellten sich die von den alten Männern eilfertig zitierten Sprüche und Vorväterweisheiten als komplett unsinnig heraus. Als nämlich die erste Mutter das erste Radio probeweise wieder ausschaltete und als das erste Kind probierte, wie es mit offenem Fenster ginge, hatte der Ton nicht nachgelassen. Vielleicht war er sogar lauter geworden, aber wie ließ sich das entscheiden, wo sich schon keiner mehr genau erinnerte, wie laut er anfangs war. Und zwischendurch hatte man ihn ja künstlich ausgesperrt gehabt und allenfalls ein leises Raspeln gehört, bei dem sich nicht entscheiden ließ, ob es der Überrest des mit aller Gewalt unterdrückten Tones war oder das übliche Zähneknirschen, Kinnreiben und Kopfkratzen. Also brach ein Streit aus in fast allen Familien, wann der Ton lauter gewesen sei, zu Anfang oder jetzt oder womöglich (dies glaubten die wenigsten) in der Zeit, in der man die Fenster verschlossen gehalten hatte. Wenn es in diesen Streitigkeiten eine zeitweise Klärung und Versöhnung gab oder auch nur ein durch Ermüdung verursachtes Abflauen, dann konnte man sich sicher sein, daß bald schon eine neue Auseinandersetzung aufbrach um die Frage, ob denn der Ton noch lange, nicht mehr lange oder vielleicht doch endlos lange andauern werde. Vieles wurde unternommen gegen den viel zu lauten Ton, noch mehr wurde erwogen, debattiert, zerredet. „Ich habe nichts gegen den Ton an und für sich,“ erklärte zum Beispiel in einer der jetzt nahezu allabendlich stattfindenden Fernseh-Gesprächsrunden der bekannte Ursachenerregerfänger Semmelweiß, „aber erstens dürfte er nicht so übertrieben laut sein und zweitens finde ich es feige von ihm, ja sogar infam und impertinent, wie er sich jeder Untersuchung und Aufklärung entzieht.“ „Das offenbart doch nur Ihre längst schon an anderer Stelle erwiesene Unfähigkeit, sich klar und fest den Dingen zu stellen, wie sie nun einmal sind,“ versetzte ihm die nicht weniger bekannte Wortfindungsexpertin Siebenmorgen eine saftige Wortwatsche. „Auch Sie, Herr Semmelweiß, sollten endlich aufwachen. Geben Sie doch zu, daß es hier nichts Geheimnisvolles und Besonderes gibt. Es handelt sich um eine ganz gewöhnliche natürliche Aberration auf der Basis einer erratischen Funktionalität. Andererseits ist es einfach meine moralische Pflicht, darauf hinzuweisen, daß sich der Ton selbst überfordert und überlastet. Er sollte sich, schon im eigenen Interesse und damit wir ihm noch lange lauschen können, eine kleine Pause genehmigen. Ich denke so an acht oder neun Jahre. Auch eine gewisse Verlängerung dieser freigewählten Schonfrist sollte uns allen keine Schwierigkeiten machen, wenn wir erst einmal gelernt haben, ohne unseren guten alten Ton zurechtzukommen.“ Empörte Zwischenrufe aus dem Studiopublikum, ob nun vorher abgesprochen und ausgezahlt oder ausnahmsweise einmal aus dem Augenblick heraus zustandegekommen, begleiteten diese Ausführungen: „Heuchlerin“, „Sympathisantin“, „Dreigroschenmädchen“. Dieser Lärm weckte nun wiederum jene Zuschauer im Studio, die Frau Siebenmorgen ergriffen gelauscht hatten, und reizte sie zu einer Gegenattacke voller Schmähungen wie „Verwirrspezialist“, „Rückwärtsraser“ und „Brutalkalfaktor“. Wie wir sehen, war jede Einigung unmöglich, obwohl nach der Sendung Herr Semmelweiß und Frau Siebenmorgen ein bis in den Morgen währendes Gespräch hatten, in einem wenig angesehenen Weinlokal und weitgehend ohne Zeugen, was zu beträchtlichen Vermutungen und Unterstellungen Anlaß gab. Aber auch dieses Thema verschwand wieder aus den bebilderten Zeitschriften.

Man muß zugeben, daß auch die zweiundachtzigste Fernsehsendung über das Phänomen des Dauertones, seinen unaufgeklärten Ursprung und seine noch unbekannten Folgen so gut wie keine Auswirkungen in der Sache hatte. Den Ton schien es nicht zu kümmern, ob man ihn beachtete oder geflissentlich überhörte, ob man ihn totschwieg oder ihn mit Wortkaskaden überschwemmte. Er erklang wie er immer erklungen war. Auch als keiner mehr davon sprechen wollte oder daran denken wollte und als dieser gute Vorsatz in etwa, so schlecht und recht, eingehalten wurde, war der Ton immer noch da und vielleicht (das war eine heimliche Vermutung meiner kleinen Schwester) war er schon von Anfang der Welt an erklungen, nur immer wieder aus den Ohren vertrieben und ausgeschlossen worden und vielleicht wird er zu hören sein bis ans Ende der Welt, selbst wenn ihn niemand hören will und niemand ihn zu hören glaubt.


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