Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Leseprobe zu:

Das leere Meer

Diese Sache begann damit, daß ein Jahr begann oder besser gesagt nicht begann, aber beginnen sollte, in dem nichts begann. Also, der Reihe nach. Es war der allererste Januar in dem Jahr eintausend... Nein, das wollen wir jetzt nicht verraten. Davon später. Für den Augenblick reicht es, zu wissen, daß dieser erste Januar ein Mittwoch war. Mittwoch ist eigentlich ein toller Tag. Die Woche hat schon längst angefangen und bald fängt das Wochenende an. Am Mittwoch ist die Woche noch nicht zu lang und nicht mehr zu kurz, noch nicht zu alt und nicht mehr zu jung. Irgendetwas beginnt am Mittwoch eigentlich immer - ein Jahr, eine Jahreszeit, ein Monat, eine Wochenhälfte, ein Schuljahr, eine Abend- oder Vormittagsfeier.
Auch an jenem Mittwoch begann etwas - nämlich das Jahr, in dem nichts begann. Es fing schon gut an, das muß man wirklich sagen: Das Erste war schon, daß es am Silvesterabend um elf Uhr immer noch nicht dunkel war und um Mitternacht auch nicht. Die Sonne war verschwunden, der Mond hing dickbäuchig und dickhinterig im Himmel herum und glotzte strohdumm herab. Die Leute wunderten sich natürlich, schimpften, rätselten, fürchteten sich, standen auf der Straße und debattierten im Kreis. Alle möglichen Erklärungen dachte man sich aus, verwarf sie wieder und jeder versuchte, mit möglichst lautem Geschrei seine Ansicht durchzusetzen. Aber im Grunde hatte keiner einen blassen Schimmer, warum die Nacht nicht begann. Und was man dagegen machen könnte, wußte erst recht keiner. Ein besonders Kluger wollte den Mond sprengen, damit es endlich dunkel werde. Ein anderer wollte mit Riesenschiffen die Sonne aus Afrika verscheuchen und hierher herüberziehen. Ein dritter hatte in einem Traum die Eingebung bekommen, man müsse einfach einhunderttausend Menschen dazu überreden, ganz laut ES IST ABER DUNKEL zu schreien, dann werde es schlagartig Nacht werden. Aber nichts half. Erstens hörte keiner auf die Vorschlag-Macher, zweitens tat keiner, was sie vorschlugen und drittens wäre es sowieso vergeblich gewesen.

Keiner hatte noch Lust zum Feiern. Also begann auch keine einzige Silvesterfeier. Einen besonders lauten Streit hatten drei Lehrer. Der Lehrer Einsmann behauptete, das Jahr fange trotz allem wie immer um Mitternacht an, ob es nun dunkel oder hell sei, ob ein Feuerwerk gezündet werde oder nicht. Die Lehrerin Frauenzwei war ganz entgegengesetzter Ansicht: „Nein, nein, Herr Kollege, Ihre Art von Vernunft hilft da nicht weiter. Es sind eben außergewöhnliche Umstände im Spiel. Ein Jahr beginnt erst, wenn es eingeläutet wird, und es wird erst eingeläutet, wenn der Himmel dunkel ist und plötzlich hell wird vom bunten Gefunkel der Raketen und Feuerkreisel.“ „Ich stimme Ihnen zu, Frau Kollegin,“ mischte sich jetzt der Lehrer Dreimensch ein. „Doch gebe ich zu bedenken, daß es auch gewichtige Gründe für die Auffassung des verehrten Kollegen Einsmann gibt. Ich muß sagen, daß ich geradezu einer Meinung mit ihm bin. Das Besondere scheint mir im übrigen darin zu liegen, daß das neue Jahr beginnt und nicht beginnt. Eigentlich sind wir uns alle einig.“ Dieser Versuch, es jedem recht zu machen, führte übrigens bald schon dazu, daß der Lehrer Dreimensch die Flucht ergreifen mußte. Die Lehrerin Frauenzwei warf ihm noch einen Schuh hinterher, der Lehrer Einsmann drohte ihm mit der Faust. Kaum war der Lehrer Dreimensch ein wenig außer Sichtweite, brüllten sich Herr Einsmann und Frau Frauenzwei so laut an, daß Herrn Einsmann das Trommelfell platzte und Frau Frauenzwei der Kehlkopfdeckel abriß. Aus gebührender Entfernung hatte Lehrer Dreimensch dieses böse Ende eines überflüssigen Streits beobachtet. Er mußte sich erst einmal setzen. Mühsam dachte er nach: „Hat nun das Jahr begonnen oder nicht? Hat zwischen uns dreien oder zwischen den beiden ein Streit begonnen oder nicht? Nein, den Streit hatten wir schon vorher. Eigentlich haben wir uns gestritten, seit wir uns kennen. Es begann nicht einmal eine Verschlimmerung des Streits, denn unser Streit war schon vorher ganz schön schlimm. Was beginnt eigentlich überhaupt noch? Das Jahr beginnt nicht, jedenfalls nicht richtig. Streiten kann man sich auch nicht so richtig saftig, weil kein neuer Streit anfängt und man nur ewig und drei Tage alte langweilige Streitereien weitermachen kann. Was beginnt denn noch, was beginnt denn noch?“ Den letzten Satz hatte er mit weinerlicher Stimme hervorgestoßen, als sei er kurz vor dem Todesstündchen. Zufällig kam gerade in dem Augenblick der Schüler Tobias Schlickquirler vorbei, der nun schon drei Jahre bei Lehrer Dreimensch Unterricht in Zahlenakrobatik und Kürztechnik hatte. Tobias fühlte sich angesprochen und ungefragt trompetete er heraus: „Die Schule beginnt in sieben Tagen, Herr Lehrer.“ Nun kann man nicht sagen, daß Tobias der Lieblingsschüler von Herrn Dreimensch war. Eher das Gegenteil von einem Lieblingsschüler. So etwas wie ein Horrorschüler. „Du Satansbraten,“ dachte Lehrer Dreimensch, „dir werde ich zeigen, was eine Harke ist.“ Aber er riß sich zusammen, weil sich schon ein kleines Häuflein von Rabaukenrüpeln und Prügelsuchern um ihn gebildet hatte, die alles mitbekommen hatten, finster wie die nicht gekommene Nacht guckten, sich die Lippen leckten und sich die Fäuste rieben. „Aha, ein Lehrer,“ stieß Rudolf Rauhbautz, ein gefürchteter Kirmesraufer, zwischen den Zähnen hervor. „Ich glaube, ich weiß noch, was ich früher immer mit meinem Lehrer vorhatte. Ich wollte, glaube ich, mit ihm Schlitten fahren. Mitten im Sommer. Und ihm mal richtig auf die Schulter klopfen!“ Ehe sich Lehrer Dreimensch versah, hieb ihm Rudolf Rauhbautz mit aller Kraft auf die Schulter. Der Lehrer knickte etwas ein, stand aber gleich wieder kerzengrade, weil Rudolf Rauhbautz ihm von der Seite in die Kniekehlen trat. Lehrer Dreimensch zitterte und war völlig mit den Nerven fertig. Was jetzt tun? Zurückschlagen? Und dann von Rudolf Rauhbautz zu Mus geklopft werden? Nein, hier half nur List. „Aber Rudolf, du bist ja ganz der Alte. Wie in deiner Schulzeit. Immer für ein Späßchen gut. So, aber auch der Ernst darf nicht zu kurz kommen.“ „Wer will, daß ich zu kurz komme?“ brüllte eine kreischige Stimme dazwischen: Ernst Faulstrick, der berüchtigste Lügen-, Trunken- und Untugendbold der ganzen Stadt. Auch so einer, aus dem Lehrer Dreimensch vergeblich versucht hatte, einen Menschen zu machen. Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Hatte der Teufel alle diese ehemaligen Schüler hierher geschickt, um im Bunde mit dem schlimmen Tobias ihn fertigzumachen - ihn, den freundlichsten aller Lehrer.
„Wer soll mich jetzt noch retten?,“ dachte Lehrer Dreimensch. „Ich bin schon im Rachen des Haifisches angekommen. Alle sind gegen mich, alle wollen mir etwas. Wer soll mich bloß befreien?“ Aber da kam ihm eine glorreiche Idee. „Ich will,“ dachte er, „mich zusammentun mit dem kleinen Gangster gegen die großen Gangster.“ Er flötete mit einer honigsüßen Stimme: „Tobias, mein kleiner Freund, und Sie, meine Herren, wir haben jetzt keine Zeit für Meinungsverschiedenheiten. Wir brauchen jetzt jeden einzelnen, um mit den aufgetretenen Schwierigkeiten fertigzuwerden. Also, als erstes betrachten wir einmal das Problem an und für sich. Worin besteht es? Seit Stunden fängt nichts mehr an. Das neue Jahr fängt nicht an, die Nacht fängt nicht an, jedenfalls nicht richtig und Streit können wir auch nicht anfangen. Wir können es einfach nicht, meine lieben Freunde!“ Den letzten Satz hatte er mit solcher Überzeugtheit herausgedonnert, daß selbst Rudolf Rauhbautz, Ernst Faulstrick und der frechfiese hundsgemeine Theo Vielmist, der hinter dem breiten Rücken seiner beiden Freunde gerade eben dreist hervorgrinsen wollte, ganz erschüttert und erschlagen waren. Lehrer Dreimensch, dem natürlich auffiel, wie gut seine alte Masche bei seinen alten Schülern zog, kam jetzt erst richtig in Fahrt. „Ja, wir sind in höchster Not, wir alle. Wir sind verloren, wenn kein Wunder geschieht. Wir müssen zusammenstehen wie ein Mann. Wir brauchen jeden einzelnen hier auf dem Platz. Für jeden gibt es etwas zu tun - und genau das, was er am liebsten tut. Wer den Sport liebt, darf sich bewegen.“ Hier nahm der Lehrer die Fäuste hoch, hüpfte hin und her, zeigte einen Boxer-Ausfallschritt. „So,“ dachte er, „werden auch die Dumpfbeutel begreifen, welchen Sport ich meine.“ In der Tat erntete er tosenden Beifall, vor allem von den Herren mit den breiten Schultern. „Und wer gerne denkt,“ rief Lehrer Dreimensch mit schmetternder Stimme, „der soll denken, so viel er nur will. Du, mein lieber Tobias, zum Beispiel bist ein großer Denker. Bitte hilf uns, eine Lösung auszudenken!“ Tobias, der sich sehr geschmeichelt fühlte, setzte sich erst einmal hin. „Alle schauen mich an,“ dachte er, „ich darf sie nicht enttäuschen. Ich muß mir etwas einfallen lassen. Doch was?“ Schweiß lief ihm die Stirn herunter, kitzelte auf der Haut. Ja, das war es. Man mußte es machen wie in den alten Märchen. Er stand wieder auf. Er hielt sogar eine kleine Rede: „Herr Lehrer, liebe Leute, es handelt sich hier um ein Rätsel. Oder ist irgendjemand anderer Ansicht?“ Er blickte sich um. Alle nickten, schweigend und feierlich. „Und wie löst man ein Rätsel? Nicht durch Herumsitzen oder Abwarten oder Zeitzerreden. Auch nicht durch Bohren in der Nase oder Fliegen fangen. Man muß sich erheben, muß sich rühren, muß sich auf den Weg machen und die Lösung des Rätsels suchen. Will jemand das bezweifeln?“ Wieder schaute er alle prüfend, sogar ein wenig grimmig an. Keiner widersprach. Doch einer, aber nur so halb. Es war Theo Vielmist, der ganz keck fragte: „Aber wo willst du suchen?“ „Typisch Theo,“ dachte Tobias bei sich, „was soll auch von ihm anderes kommen als solch eine dumme Frage.“ Aber weil er von seinem Vater gehört hatte, man solle eine dumme Frage besser überhören und sie auf keinen Fall sofort direkt beantworten, drehte sich Tobias abrupt um, hob den Kopf und wies zum Himmel: „Es ist immer noch nicht dunkel. Wann wird es dunkel werden? Niemand weiß es, aber eines Tages werden es alle wissen. Wo ist die Lösung dieses Rätsels? Niemand weiß es und doch wissen es alle: Hier kann sie nicht sein, sondern nur dort.“ Er deutete in eine unbestimmte Ferne, Richtung Osten, auf das Meer zu. Alle schauten mit offenem Mund auf seinen Arm, als halte er einen Zauberstab in der Hand. Tobias hob die Arme leicht an, schob die, die in seiner Nähe standen, sacht beiseite und bahnte sich so einen Weg durch die Menge. „Ihr könnt für’s erste nach Hause gehen. Ich werde für Euch nach DORT gehen und mit der Lösung des Rätsels zurückkommen.“ Ohne sich noch einmal umzusehen, ging er fort, ohne darauf zu achten, ob die anderen ihm nachblickten, mit Taschentüchern winkten, ihm Glück wünschten oder die Pest an den Hals.

Bald schon hatte sich die Menge zerstreut, auch zum Lehrer Dreimensch waren die Rüpel im Prinzip sehr nett. Nur einmal fiel er hin, weil ihm Theo Vielmist aus Versehen ein Bein gestellt hatte, und lediglich zwei Knöpfe seiner Jacke gingen verloren, als Rudolf Rauhbautz und Ernst Faulstrick ihn im Gedränge noch ein wenig anrempelten, mehr so zum Spaß. Ja, aber Tobias. Ehrlich gesagt hatte er mehr oder weniger geblufft. Er wußte zwar, wo HIER war, das kannte er in- und auswendig. Aber wo war DORT und an welchem DORT würde sich die Lösung des Rätsels finden lassen? „Keine Ahnung ist auch eine Ahnung,“ dachte Tobias. „Mal sehen, was kommt. Es wird sich finden.“ Und er verdoppelte sein Schritttempo. „Wohin gehe ich?, “ dachte er. „Da es egal ist, einfach geradeaus. Bis ich ans Meer komme. Entweder weiß ich dann nicht weiter oder eine Wasserfrau wird kommen und mir weiterhelfen.“ Ganz schön raffiniert, muß man sagen. Jedenfalls kam er so zum Meer. Nach gut dreißig Tagen war er da. Allerdings wäre er beinahe am Meer vorbeigelaufen oder darüber hinweg. Denn da, wo das Meer gewesen war, war jetzt nullkommanichts. Daß es hier früher anders aussah, erkannte man lediglich an einem großen blauen Blechschild „Blaumeerküste“, an weißen Strandkörben, rotweißen Rettungsringverankerungen und an den Eisverkäufern, die vergeblich Ausschau hielten nach Kindern, die Sandburgen bauen, im flachen Wasser planschen und ständig Eis essen wollen.

Aus irgendeinem Grunde beschloß Tobias, sich gerade hier erst einmal einzunisten. Einfach so oder weil er auf eine ihm urplötzlich angebotene kostenlose Überfahrt hoffte oder auf das urplötzliche Auftauchen einer Wassernixe, die so schön war wie seine Griechischlehrerin oder sogar noch schöner, oder weil er spürte, daß er hier der Lösung des Rätsels näher war als überall sonst. Er hockte im Strandcafé, trank seinen Lieblingskakao, der aber stets kalt wurde vor lauter Nachgrübeln und Übersmeerschauen (also dahin, wo das Meer gewesen war und wo es eigentlich noch hätte sein müssen). Immerhin hatte er schon etwas in Erfahrung gebracht. Von zwei alten Tanten am Nachbartisch, die wie ein Wasserfall - nein wie zwei Wasserfälle - redeten, hatte er gehört, wann das Meer verschwunden war: Am Silvesternachmittag, mitten in den Vorbereitungen für Feuerwerk, Besauferei und Freßfest. Wie auf Kommando wich das Wasser lautlos zurück, mehr und mehr, bis es hinter dem Horizont verschwunden war. Zwei Sportsmänner, die zur Abhärtung in der saukalten Flut gebadet hatten, waren zwanzig Meter vom Strand entfernt unsanft zu Boden geplumpst und mußten zu Fuß zurück statt gemütlich zurückzuschwimmen. Anfangs füllten sich die Priele und Wattlöcher noch mit der braunen Brühe, die seit Menschengedenken aus den Abwasserrohren eingeleitet wurde, aber das wurde bald wegen der eingetretenen Geruchsbelästigung gestoppt. Nachdem der letzte Modder getrocknet war, erinnerten nur noch schwarzbraune Flecken an dieses vorübergehende Ersatz-Meer.

„Warum gerade zu diesem Zeitpunkt, als das Jahr zu Ende geht?“, dachte Tobias. „Warum endet das Meer und das Jahr nicht? Wird, wenn das Meer wieder beginnt, das Jahr beginnen? Ich weiß es nicht.“ Ja, das stimmt. Tobias wußte es nicht und sonst auch keiner. Pech! Und weil Tobias nicht weiterkam in seinen Gedanken und Forschungen, schob er seine Rückreise zu den Eltern und in die Schule wieder und wieder auf. Auch als er kein Geld mehr hatte für warmen oder für kalten Kakao. Man sagt, er bettelte sich so durch, und eines Tages war er umgezogen. Gefragt hat sowieso nur ganz zu Anfang einer von den Lehrern oder den Rüpeln, wo denn Tobias bleibt mit seiner versprochenen Lösung des Rätsels. Irgendwie ging es auch ohne Lösung. Irgendwann, kaum bemerkt von den Leuten, fing das neue Jahr doch an und das Meer tauchte wieder auf und mit ihm richtig großer Streit, Wellengeheul und Sturmfluten.


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