Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Ernst-Wilhelm Händler und die Zukunft der Literatur

Ernst-Wilhelm Händler hat in der „FAZ“ vom 3. 8. 2019 (S. 16) unter dem Titel „Die Zukunft ist nur noch verlängerte Gegenwart. Warum die Literatur in einer von Algorithmen determinierten Welt ihren Kunstwillen opfert“ sieben „Thesen zur Autorschaft heute“ vorgelegt. Auch wenn seine eher statuarische, um nicht zu sagen statutenhafte Argumentation nicht unmittelbar zum kritischen Dialog auffordert, scheint mir doch der Versuch einer teils zuspitzenden, teils korrigierenden Antwort sinnvoll. EWH konstatiert einen zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß, der eine Neupositionierung auch der Wertesysteme verlangt. Das trifft zu, aber es ist ein halbe Wahrheit, denn die schon von Karl Marx beschriebene Reduktion mittelalterlicher Komplexität (die Zünfte, die Adelshierarchien usw.) bildet den Gegenpol dazu: Die modernen Gewerbetreibenden aller Sektoren unterscheiden sich allenfalls darin, ob sie erfolgreich eine profitable Nische besetzen oder dies nicht tun und deshalb bald verschwunden sein werden. Gegenläufig zu den diversen Subkulturen gibt es eine zunehmende Vereinfachung der Vermögensverteilung im Sinne von Haben einerseits und Nicht-Haben andererseits.
Immer schon gab es Literaten, die keine Künstler sein wollten, und andere, die ohne Rücksicht auf das Publikum Kunst um der Kunst willen zu schaffen versuchten. Welche der beiden Gruppen ist für EWH „die Literatur“, die angeblich „ihren Kunstwillen opfert“? Die Konstellation für die erfolgreichen oder doch um jeden Preis den Erfolg suchenden Autoren beschreibt er zutreffend: Bestseller und Möchtegern-Bestseller müssen sich behaupten im Wettstreit mit neuen nichtliterarischen Konkurrenten (sozialen Netzen, Serien, Werbung, Computerspielen usw.). Andererseits geistern zumindest Werbung und Film schon lange durch literarische Werke, bilden etwa bei „Rebecca“ seit 1940 das du-Maurier-Buch und der Hitchcock-Film eine untrennbare „Wirkungseinheit“ (Wilhelm Salber).
EWH sieht modische Bezüge, Skandale und Moral als Mittel für den Erfolg schlechter Literatur, da diese so Leserschaft hinter sich einen kann. Aber all dies ist auch bei einigen exzellenten Werken und Autoren zu finden. Goethes moralingeschwängerter „Werther“ war so extrem modisch und zeitaffin, daß er eine europaweite Tränen- und Selbstmordwelle auslöste. Brechts Theaterskandale machten seine Stücke weder besser noch schlechter. Der abgründig amoralische Wilhelm Busch und der zutiefst moralische Wilhelm Raabe sind in ihrer Epoche Antipoden, aber groß sind sie beide. Andererseits ist es als Blickpunktwechsel durchaus interessant, nach Kriterien für schlechte Literatur zu fragen, nur liefert es wenig an Erkenntnis für gute Literatur. Für diese dekretiert EWH: „Es ist sinnlos, eine generelle Definition für qualitätsvolle literarische Erzeugnisse zu geben. Zeitübergreifende Qualitätsmaßstäbe für gute Literatur existieren nicht. Alle diesbezüglichen Versuche erweisen sich früher oder später als zeitgebunden.“ Nun ist unbezweifelbar, daß selbst in der Beurteilung klassischer oder antiker Literatur keine hundertprozentige Übereinstimmung erreichbar ist und daß es im Generationenwechsel Verschiebungen gibt. Ein Frankfurter Autor mittlerer Bedeutung kann Kleist als Langeweiler abtun, ein anderer Goethe als Fürstenknecht, Frauenausnutzer und Hundefeind verabscheuen – von Abschußorgien gegen politisch Mißliebige wie George, Weinheber, Ernst Jünger ganz zu schweigen. Aber das sind Randerscheinungen, denn es gibt trotz allem einen Konsens unter den Gebildeten, den Lese- und Lernwilligen, daß Autoren wie die Manns, Hesse oder Musil Bedeutung besitzen für die deutsche Literatur. Wer wie ich bei Thomas Mann nach den „Buddenbrooks“ Stillstand und Abstieg sieht, wer wie ich H. H. Jahnns gewaltige und gewaltsame Epen dem „Mann ohne Eigenschaften“ vorzieht, der wird gleichwohl weder Musil noch Mann als Nullitäten behandeln. Auch die „Zweite Liga“ der Ina Seidel, Isolde Kurz, E. M. Remarque usw. wird kein einigermaßen Zurechnungsfähiger herabstufen auf das Kreisklassenniveau der Marlitt, Simmel und Konsalik.
Wegen der Einflüsse des Zeitbedingten alle Maßstäbe für gute Literatur über Bord zu werfen, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Auf das Vordringen der modebesessenen Kulturindustrie, auf den Aufstieg der bürgerlichen Profitwirtschaft, auf das Vordringen geistfeindlich-nihilistischer Radikalaufklärung reagiert seit der Romantik eine Gegenwehr der Dichter. Hölderlins „An das Göttliche glauben / Die allein, die es selber sind“, Eichendorffs „Der Dichter kann nicht mit verarmen; /Wenn Alles um ihn her zerfällt, / Hebt ihn ein göttliches Erbarmen – / Der Dichter ist das Herz der Welt“ gehören in einen internationalen Kontext verschiedenster Varianten der Kunst um der Kunst willen, des rücksichtslosen Kontrapunkts gegen eine Vernutzung der Literatur für das alltäglich Verwendbare.
Daß die literarische Avantgarde seit langem in der Krise ist und stagniert, ist altbekannt. Ob es auf diesem Weg erneut statt Nachhall und Fußnoten Neues und Unerhörtes geben wird, läßt sich durch Prophezeiungen und Spekulationen nicht klären, sondern wird allein dadurch entschieden werden, ob solche Werke in den nächsten Jahrzehnten auftauchen. Ähnlich fragwürdig ist der Versuch, Takis Würger mit seinem „Stella“-Roman zu einem Beweis dafür zu stilisieren, daß schlechte Literatur den Skandal sucht und durch ihn Erfolg hat, obwohl angeblich „der passionierte Leser“ entsetzt und „die Literaturkritik in der Ablehnung vereint ist“. Wer ins Netz schaut, findet hier keineswegs die dogmatisch behauptete Eindeutigkeit des Urteils.
Zutreffend beschreibt EWH, wie die Digitalisierung und Algorithmisierung es den Autoren erschwert, die Balance zwischen ihrer eigenen Schreibweise und der Aufnahme fremder Prägungen durch die Datenmengen der digitalen Welt zu halten. Aber dieses Problem ist letztlich nur eine aktuelle Variante eines ewigen Problems der Literatur: Authentizität im Übermaß erzeugt eine abseitige Unverständlichkeit, während eine authentizitätsfreie Objektivität den Leser kalt läßt und langweilt. Schon vor der Heraufkunft der Digitalsysteme haben im zwanzigsten Jahrhundert die großen Dystopien beschrieben, wie der Einzelne seines geistigen Eigentums und seiner persönlichen Freiheit beraubt wird. Wir Heutige bewegen uns - zunehmend pessimistischer - in diesen Bahnen, wir erweitern und vertiefen sie lediglich durch neue Inhalte wie die Gentechnologie oder die Gesichtserkennung. Daß wir anders als die Altvorderen unsere Werke weder mit dem Federkiel noch mit der mechanischen Schreibmaschine festhalten, ist nur von zweitrangiger Bedeutung. Es geht noch immer darum, aus dem eigenen Leben, den eigenen Träumen und Verknüpfungen eine Literatur zu destillieren, die in einer Spiegelscherbe ein Stück Welt glaubwürdig und bewegend zurückwirft. Dies ist nicht durch einen künstlich intelligenten Sprachroboter zu ersetzen. Allerdings werden solche Gerätschaften zunehmend Bereiche okkupieren, in denen wie bei Sportreportagen oder Parlamentsdebatten große Teile des Publikums lediglich eine un- und überpersönliche Darstellung von Sachverhalten und eine Wiederkehr des Gleichen bis Ähnlichen erwarten. Aber damit nehmen sie der Literatur nichts, sondern lediglich manchen Literaten manche Einkommensquellen. Wenn Perry-Rhodan-Hefte nicht mehr von skurrilen Egomanen wie Peter Terrid (1949-1998) geschrieben werden, sondern von der EDV-Anlage, werden wohl nur die wenigen es bemerken, die dem Autor begegnen durften und Querverbindungen zu dessen Person herstellen können. In Zukunft wird Epigonales nicht von Epigonen geschrieben, sondern stammt aus dem Fundus der Maschinen.
Zu Recht sieht EWH eine Zunahme standardisierter Sprachmuster und emotionsfreier kognitiver Routinen durch automatisierte Sprachverarbeitung und künstliche Intelligenz und einen teils ideologisch verklärten Verzicht auf Stil. Hier ist ein Partisanen-Widerstand der Autoren gefragt – gegen ein Dumm-Denglisch, in dem vom Dorflehrer bis zum Papst jeder seinen „Job“ machen soll, gegen das Polit- und Managergefasel von „gut aufgestellt“ bis „Zivilgesellschaft“.
EWH schreibt am Beginn seiner fünften These: „Kunst und Kultur haben kein Privileg mehr für Fiktion.“ Er begründet dies u. a. mit wissenschaftlichen Erkenntnissen der Quantenmechanik und Kosmologie, verzichtet aber dankenswerterweise darauf, Prophezeiungen aufzustellen über die konkreten Konsequenzen für die Literatur. Auch wenn es fraglich ist, ob dieses Fiktionsprivileg je bestand (man denke nur an die Märchenerzähler und –erfinder in den Spinnstuben, an die religiösen Visionäre und Phantasten) – Fakt ist, daß ein Zusammenführen von Literatur und Naturwissenschaften, wie es schon vor fünfzig Jahren der zu Unrecht vergessene Erzähler und Essayist Heinrich Schirmbeck (1915-2005) versucht hat, eine ebenso große wie lohnende Aufgabe für Autoren ist.
EWH sieht den Kunstwillen und den Stil als prägende Elemente für die deutsche Literatur in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Das hat manches für sich, sagt aber angesichts der Vielfalt programmatisch-stilistischer Ansätze bei zwei bis drei Dutzend nicht ganz bedeutungsloser Autoren relativ wenig aus. Erst recht fragwürdig wird die Aussage, wenn die abschließende siebte These postuliert: „Die Neuordnung des Zusammenspiels der Dimensionen Bezug zur Außenwelt, Bezug zu anderer Literatur, Bezug zu eigener Erfahrung und Stil macht es unwahrscheinlich, dass der Stil noch einmal eine Dominanz wie in der Vergangenheit ausübt. Es erscheint nicht aussichtsreich, den Begriff des Kunstwillens mit einem anderen Element als demjenigen des Stils zu verbinden. Der Begriff des Kunstwillens scheint deshalb für die Literatur obsolet zu werden. Die Behandlung von Qualitätsmaßstäben für Literatur kann dann nicht mehr auf den Begriff des Kunstwillens rekurrieren.“ Statt mit Wahrscheinlichkeiten zu jonglieren und über ein dauerhaftes Veralten einer momentan unmodischen Haltung zu spekulieren, wäre es hier besser, EWH würde seine persönlichen Wünsche an die Literatur präzisieren. Um dies für meine Person zu tun: Nach über dreißig Büchern, teils in großen, meist in kleinen Verlagen, manchmal gut honoriert, oft genug nur bescheiden dotiert, kann ich als nicht brotloser, aber dennoch unterbezahlter Wortkünstler nur sagen, daß ich mit aller Entschlossenheit (meinetwegen auch mit „Kunstwillen“) festhalte an der Passion, in meinem Stil (in welchem sonst?) der stets unerreichbaren Vollkommenheit von Aussage und Form näher zu kommen.

Sehr geehrter Herr Stolz,  

vielen Dank für Ihr Angebot einer Antwort auf die Thesen von Ernst Wilhelm Händler. Ich muß aber sagen, daß sie mich bei Lektüre  nicht genügend interessiert hat, als daß ich den derzeit knappen Platz im Feuilleton dafür in Anspruch nehmen möchte. Dafür bitte ich um Verständnis.  

Mit freundlichen Grüßen,  
Andreas Platthaus
Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH Hellerhofstraße 2-4 ·  60327 Frankfurt am Main
08.08.2019 um 14:31 Uhr



Rolf Stolz: Die Kultur-Utopie Europa (Essay)