Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

Romane · Kurze Prosa · Lyrik · Essays · Kinderbücher · Theatralisches
Künstlerische Photographie · Kopier-Kunst · (Material)Bilder



Venedig - andere Seiten


Venedig: Der Traum der einen, der Albtraum der anderen. Die Zahl der Venedig-Enthusiasten und die Zahl der Venedig-Verächter scheint sich in etwa die Waage zu halten. Für die einen ist es eine besondere gefühlte Heimat, ein Fixpunkt für die Erzählungen und Erfindungen in unserem inneren Film. Für die anderen ist es ein düsterer Ort, erdrückt von Geschichtsmüll, durchflossen von stinkenden Abwässerkanälen, bevölkert von zahnlosen Alten, gröhlenden und am Stück schnappschießenden Touristen und mittendrin raffgierige Gondoliere, die gegen reichlich Bares ihre Schnulzen trällern. Bei meiner Sonne und bei Santa Lucia – so ist es auch, aber so ist Venedig eben nur manchmal und an manchen Stellen. Das wirkliche Venedig, die wahre Seite dieser unwirklichsten und zerfließendsten aller Städte, zeigt sich gerade darin, daß alles Mögliche und Unmögliche zusammenkommt, daß die goldenen Fäden aufscheinen in einem dunklen Muster, daß die weltlichen und geistlichen Paläste aufleuchten inmitten von Verfall, Untergang, Schmutz. Wer das Reine sucht, den puren Anfang, die reduzierte Form und die kühle Sachlichkeit, der fahre nicht nach Venedig. Der bleibe zuhause oder reise in Städte, die fast ohne Geschichte sind, die einen klaren Platz für sich haben und eine ausgeklügelte Idee verwirklichen. Die Idee und die Realität von Venedig, das ist das halb geformte und - in aller großzügigen Gelassenheit - halb belassene Chaos, das leidenschaftliche Labyrinth, der Irrgarten als Anti-Ziergarten. Dieser HORTUS URBANUS ist voller organischer und künstlicher Verschlungenheit, voller Abfallstoff des Vergangenen, voller Wildnis und Wirrnis. Allenfalls an den Rändern - etwa in den Uferstraßen der Lagune und in speziellen Bereichen wie den wenigen großen Plätzen - ist er beschnitten und durchkomponiert.

Für uns, die wir Venedig lieben mit dem unbedingten, unverhandelbaren Fanatismus einer Liebe und Begeisterung, die alle anderen Städte auf die Plätze, in die zweite und dritte Reihe verweist, ist Venedig wie das Leben: im Fluß, unaufhörlich aufsteigend und versinkend, eher ein Traum- und Wahnbild in uns als eine feste objektive Größe. Venedig - man kann dort zugrundegehen und abstürzen, man kann dort treiben in den Wellen einer Liebe zu einem anderen Ich, die für eine Zeit und als könnte das für immer sein alles sonst um uns herum verschwinden läßt. Aber man kann auch in der unbegrenzten Einsamkeit des Zuschauers und Spaziergängers (die Sinne als Sinn von allem, ganz und gar Augen-Tier) die vielen Wege gehen, die sich unablässig neu auftun und verflechten. Das genau ist es, was ich in Venedig getan haben: Reflexe auf der Netzhaut (auch Reflexe von Reflexen auf dem Wasser und in anderen Spiegeln) auf den Film und auf das Papier zu bannen, Abbildungen und Einbildungen festzuhalten von dieser Stadt, die den, der wirklich in ihr ankam, niemals loslassen wird.

Rolf Stolz, im April 2002



 zum Seitenanfang