Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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TAGEHEFT

ZUM TAGEHEFT
In den Tageheften habe ich seit dem 1. Mai 2011 Tag für Tag festgehalten, was mir wichtig war - in einem oder mehreren Sätzen. Hier im Netz sind diese Texte seit April 2013 erschienen. Das erste Tageheft (2011-2012) ist 2016 als Buch erschienen, das zweite (2013-2014) 2017, das dritte (2015-2016) 2018, das vierte (2017-2018) 2019 (siehe unter AKTUELLES).

31. Juli 2020
Jedes Vergessen ist auch ein Gewinn.

30. Juli 2020
Wir trennen zwischen dem, woran wir uns erinnern können, und unserer Erinnerung an die für uns Verschwundenen. Klüger wäre es, würden wir uns an uns erinnern, als seien wir schon verschwunden.

29. Juli 2020
Skepsis ist angebracht angesichts derer, die aus der Menge des rundum angehäuften Wissens sich eine proportionale Zunahme der Fähigkeiten einbilden.

28. Juli 2020
Selbstverständlichkeiten sind nicht per se wertlos. Aber stets werden sie für wertlos gehalten.

27. Juli 2020
Die Dichtung hat als eines der wenigen Residuen des Menschlichen (des Nur-Menschlichen) den Vorzug, keinen Fortschritt zu kennen und jedes Überholmanöver von vornherein aussichtslos zu machen.

26. Juli 2020
Ein Staat, der seine Staatsbürgerschaft auch an seine Feinde vergibt, noch dazu, ohne überhaupt festzustellen, was sie lieben und was sie wollen, ist verloren.

25. Juli 2020
"Unsere Zeit": Wir erhalten sie stunden- und leihweise. Der Zeitgeber behält sich den täglichen Widerruf vor.

24. Juli 2020
Selbst wenn wir unsere Nachfolger bestimmen könnten - wir kennen sie nicht genug. Sie sind nicht wie wir. Abgesehen davon, daß sie sich so wenig kennen wie wir uns selbst kennen.

23. Juli 2020
Ähnlichkeiten der Menschen: Stets nur in der groben Kontur, nur in einzelnen Nuancen.

22. Juli 2020
Insgesamt gesehen ist das Risiko des Fliehenden geringer als das des Bleibenden.

21. Juli 2020
Bedroht von den großen Räubern und verbellt von etlichen kleinen flüchtete sich der Adler in die freie Luft und fühlte sich vollkommen erhaben.

20. Juli 2020
Im Bunde mit dem Löwen und geschützt von ihm verteidigt der Schakal seine Beute.

19. Juli 2020
Relativ bedeutungslos geworden die Differenz zwischen „von und zu“ und „ohne von“. Weiter unbedingt wichtig der Klassenunterschied zwischen denen, die unten sind, dort verbleiben wollen und dies stilisieren als „von unge“, und denen, die eine Zeit nach dorthin abgedrängt sein mögen, aber stets auf Veränderung sinnen und sei es durch Umsturz.

18. Juli 2020
Wer hat recht: Der, der gerade Fremdes erntet, oder der, der mühsam seine kleine Saat zu verteidigen sucht?

17. Juli 2020
Schaut man genau hin, bis in die kleinste Abweichung, so ist keine Zecke wie die andere, ohne daß sich (Gleichheit der Art und des Alters vorausgesetzt) ihre individuelle Prägung – abgesehen von physischen Deformationen – für das einzelne Tier auswirken dürfte. Ob sie sich, wenn kein Angriffsziel in Sicht ist, frei für das nächste Wegstück entscheidet, bleibt offen. Wir dagegen sind verurteilt zu unseren jeweiligen persönlichen Besonderheiten, zu unserer Einzigkeit, Einsamkeit und Unwiederholbarkeit. Auch wenn ein Beobachter aus großer Ferne ein mikroskopisch wirksames Teleskop benötigte, um uns zu bemerken und unsere Unterschiede.

16. Juli 2020
Oft genug fehlt die Einsicht, daß man es als ein persönliches Defizit ansehen sollte, sich los von Gott zu fühlen. Es liegt nicht in unserer Hand, über eine höhere Macht zu entscheiden.

15. Juli 2020
Wäre es moralisch gewesen, wenn die beiden Mächte, die die in Größen- und Eroberungswahn befangenen Polen 1939 antrieben, sich nicht mit Deutschland zu einigen und den Marsch auf Berlin vorzubereiten, beim deutschen Einmarsch Polen zu Hilfe gekommen wären? Wäre es moralischer gewesen, wenn das Reich statt des Krieges mit Rußland diesem Serbien, Bulgarien und Griechenland überlassen hätte? Gibt es außerhalb von Ausnahmefällen und Randgebieten Beispiele für eine moralische und nicht katastrophale Politik einer größeren Macht?

14. Juli 2020
Die Abneigung vieler Wohlmeinender gegen Wilhelm Busch rührt daher, daß er das Böse ausspricht und zeichnet, welches sie nur allzugerne straffrei exekutiert hätten.

13. Juli 2020
Gebildete, selbstbewußte, faire und rassismusfreie Schwarze wissen, daß „NEGER“ zutreffend ihre Hautfarbe bezeichnet und reiben sich nicht an diesem Wort, sondern eher an den anders gestrickten Gleichfarbigen.

12. Juli 2020
Einst störte der Negeraufstand die Sklavenhalter. Deren ungeistig-geistlose Urenkel verdammen das Wort, gut paternalistisch stellvertretend für die unmittelbar Betroffenen.

11. Juli 2020
Der Negeraufstand auf Haiti bleibt der Aufstand der Neger und nicht der der Weißen.

10. Juli 2020
„Verbrennt den GALLISCHEN KRIEG, verbrennt das KOMMUNISTISCHE MANIFEST“, so schallt es von den in begeistertem Wahn entbrannten Barbaren her.

9. Juli 2020
Franz Kafka hätte doch, da er das Tschechische beherrschte, seinen späteren selbstbewußten Erben zuliebe darauf verzichten können, alle seine Werke auf Deutsch zu schreiben. Manche sagen, er habe dies der Tantiemen halber getan und darin zeige sich der den Juden gemeinsame Charakterdefekt der Habgier.

8. Juli 2020
Es ist schön, daß sich Israel Franz Kafkas erinnert. Aber es sollte dies in dem Gefühl tun, daß die Verbindung zwischen dem Dichter und diesem Staat ähnlich gelagert ist wie die Beziehung zwischen Cäsar und dem heutigen Rom.

7. Juli 2020
Wir Dichter haben wenig mehr als unsere Sprache. Aber sie ist unverlierbar. Nur wir selbst können sie aufgeben. Diese Heimat im Reich besonderer Worte kann uns keine Annexion rauben.

6. Juli 2020
Eine Zeitschrift, die sich MONOPOL nennt und so ihre Wunschträume und ihre Freunde aus den oberen Einkommensklassen korrekt bezeichnet, kürt den äußerst oppositionellen und äußerst humanistischen Kaiserringträger Hans Haacke zur Nr. 1 des diesjährigen Kunstauftriebs. Keiner repräsentiert in solcher Vollkommenheit den hochbegabten Propagandisten in eigener Sache – einzelne Mißstände und einzelne in Mißkredit Geratene anprangernd, sich damit ein Opfer-Alibi und den Nimbus des Enthüllers verschaffend, allzeit im Dienste der Mächtigen und aus deren Allerwertestem heraus dem gefährlichen Volke predigend, was es gefälligst zu denken habe. Unvermeidlicherweise muß die Kunst dabei zurücktreten. Zur Not wird sie zurückgetreten.

5. Juli 2020
„Ich mag ja windig sein, aber ich heiße nicht Windig, sondern Bindig“, sagte vor vielen Jahren ein SPD-Bundestagsabgeordneter, der sich immerhin weit mehr um internationale Solidarität bemühte als die meisten seiner Parteifreunde. Angesichts der milden Gaben vom Großverwurster anno 2020 an jenen emeritierten SPD-Führer und Erzengel der Freien Machtwirtschaft wird man nostalgisch. Es gab einmal eine zumindest noch in großen Teilen soziale und demokratische Partei. Ehedem.

4. Juli 2020
Wird der Lobbyist der CLUBKULTUR von meinem Gewerbe, der Dichtungsbranche, etwas erwarten? Selbst dann, wenn er verstanden hat, daß es mir nicht um Abdichtung gegen Feuchtigkeit geht, bleibt seine Kultur eine in der Petrischale.

3. Juli 2020
Glückliche alte Zeiten, als man, statt sich in ein Ausscheidungsstürmchen im Netz zu entladen, aus berechtigter Empörung dem Dorfschuster Meindl sämtliche Scheiben einwerfen konnte, wenn bei vier in einem und demselben Raum gelagerten Paar Bergschuhen nur bei dem von ihm gelieferten sich die Sohlen in Kunststoffbrocken aufgelöst hatten. Auch seine weltläufige Ausrede, er habe zur Unterstützung armer Menschen und des Welthandels sie in fernen Landen fertigen lassen, würde keinen der fröhlich fliegenden Steine aufhalten.

2. Juli 2020
Tilos Vater hatte in das Buch „Der Untergeher“, das ich mit deutlichen Spuren des Lesens und Aussortierens im kommunalen Bücherschrank fand, geschrieben, er sei stolz auf seinen Sohn. War der, als er es abgab, noch stolz auf seinen Vater?

1. Juli 2020
Auf dem Weg zu sein und auf ihm zu bleiben ist schon eine Leistung.

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