Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Leseprobe zu:
Geschichten, zu denen nichts zu sagen ist

Tode und Halbtode

Es war das Photo einer Me 162, ein zeitgenössisches Dokument, in einem Antiquitätengeschäft, das ihn noch einmal daran erinnerte, was gewesen war, 1999 in einer kleinen Stadt am Rhein. Er war siebzig, braungebrannt, ein Techniker, der wußte, was man machen muß und wie man es macht, in einem edlen Polo-Hemd, der Schriftzug ersetzt das Preisschild und an den Perlmutt-Knöpfen siehst du, wer da kommt und in wenigen Monaten wurde er Vater. Ein wenig der jüngere der Hauptmann-Brüder, der Nach-Olympier, der Nachahmer des Frankfurter Original-Genies, die grauen eher glatten Haare in einem ruhmrednerischen Kranz um das breite Gesicht, die Stirn sehr betont, schon auf den ersten Blick ein Ingenieur, der auch Kaufmann ist und verkaufen und sich in den besten Kreisen bewegen kann - freundlich, aber nicht allzu, höflich, aber ohne krumme Knie und vor allen Dingen bestimmt bis aufs Blut.

Für dieses Flugzeug, in dem er gestorben war, hatte sein Vater eine Vorrichtung entwickelt, die später in allen Nachkriegsflugzeugen Verwendung fand, und man konnte es abbuchen unter Dankbarkeit allein schon für diese technische Erfindung, daß die Familie Messerschmitt dem Sohn des Toten sein gesamtes Studium finanzierte - auch jenen Abschnitt in England und der Schweiz, der sich relativ lange hinzog, weil auch dieser Jüngling seine Zeit brauchte, bis er mit sich selbst und mit dem Tod seines Vaters in etwa ins Reine kam. Es brauchte, es kostete Zeit, bis er für sich entschieden hatte, daß dieses Stipendium eher eine simple Gegenleistung oder eine großzügige Freundlichkeit war als ein Schweigegeld, das aus dem Sohn einen Komplizen und nachträglichen Gehilfen der Mörder machte. Aber, wenn er auch schwieg, wenn er auch sich angelernt hatte in einer störrischen Verschwiegenheit, hielt er doch gleichzeitig an dem Gedanken fest, daß sein Vater abstürzen mußte, weil einige Herren im Hintergrund dies wollten. Falls ältere Verwandte in den obligaten Herrenrunden äußerten, daß man mit der Me den Krieg mit Sicherheit gewonnen hätte, wenn die Maschinen nicht zu wenige geblieben wären durch Fehlentscheidung für andere Prioritäten und wenn die bereits produzierten nicht nutzlos auf den Flugplätzen verrottet wären, äußerte er sich meist nicht oder nur in dem Sinne, man wisse ja nie, was alles gewesen wäre wenn.

Es dauerte bis in die sechziger Jahre, bis er den Dingen nachging und sogar einen alten Untersuchungsbericht auffand, der seine Vermutungen zwar nicht restlos bestätigte, aber diesen doch neue Nahrung gab. Sein Vater war an jenem Tag bei gutem Wetter gestartet von einem Militärflughafen in der Nähe von Berlin, hatte einen Flug in großem Bogen über Brandenburg und Mecklenburg hinter sich bringen wollen, war aber schon in der Nähe von Bernau abgestürzt. In den Rohren, in denen die Zugseile für das Höhenruder und das Seitenruder verliefen, fanden sich Putzwollereste, die für ein komplettes Blockieren gesorgt hatten. Nichts ließ sich beweisen, da war ja kein Bekennerschreiben und keine vorhergehende telefonische oder briefliche Drohung, aber es war erstens nicht unmöglich und zweitens ziemlich wahrscheinlich.

"Blöde Judenzicke", sagten die Kinder auf der Straße zur Schwester seines Vaters, reichliche Jahre vor 1933, und dasselbe sagten andere Kinder zu seiner Schwester, keine fünf Jahre nach dem Krieg und bei noch weiterer Blutverdünnung, nur bei ihm traute sich schon damals keiner, er hatte ja nicht nur blitzende grimmige Augen, sondern auch ein breites Kreuz, kräftige Fäuste und eine große Klappe.

Jeder hatte gewußt, daß da einer, dem die Gründerkräche, reichliche Badekuren und Spielexkursionen nach Bad Ems, Bad Aachen und Bad Neuenahr den Thronsessel unterm Hintern weggezogen hatten, des Geldes wegen ein reiches und frisch zum Protzentantismus konvertiertes Judenmädchen heiratete, damals 1878, als sein Großvater vor den Traualtar trat, mit einer Esther Rothmann, die sich später mit ihrem zweiten Namen Katharina nennen ließ, eine Ballschönheit, dreimal so klug wie der Herr Freiherr aus siebenhundertjährigem Adel mit siebenhundert Goldmark verbliebenem Restvermögen (plus eines Rittergutes, das geradezu ein Geflügelhof für Kuckucke und ein Wallfahrtsort für Gerichtsvollzieher geworden war), ein zierliches Weibsbild mit einer eisernen Konstitution und einem hochfahrend-herrischen Auftreten und einer lustigen und lustvollen Wildheit, die ständig zu Gerüchten Anlaß gab, von der ihr besonders seitens der bei ihr nicht zum Zuge gekommenen Brüder ihres späteren Mannes und verschiedener Tanten und Nichten abgestrittenen Jungfräulichkeit zum Zeitpunkt des Eheschlusses bis zu ihrem häufig in das Halbdunkel der Vermutungen, Nachreden und Angeblichkeiten verstrickten außerhäuslichen Dasein als eine Auch-Ehefrau und Außerdem-Mutter, die trotz aller dadurch heraufbeschworenen Kräche allein die Bälle besuchte, mit ein oder zwei Freundinnen in die Sommerfrische reiste oder auch für einen langen Nachmittag in einem urplötzlich auftauchenden Pferdetaxi in Richtung Stadtzentrum verschwand. Eine Tochter und vier Söhne hatte der Freiherr mit dieser Frau, von denen der letzte, 1895 geboren, als erster starb, aber nicht in seinem ersten Krieg, den er gut (sprich leicht verletzt und im Kopf noch ziemlich in Ordnung) überstand. Der Herr Söhnchen, wie ihn der Alte mit saurem Humor zu nennen pflegte, hatte es 1915 geschafft, zu den Fliegern zu kommen, hatte einige Abschüsse sich ans Chapeau geheftet und war, als die Franzmänner ihn im August 1918 vom Himmel holten, unglaublich heil aus einer unglaublich zersplitterten Maschine gekrochen. Das war der Start für eine Karriere, die ihn schon kurz nach dem Revolutionsjahr wieder in die Reichswehr brachte und von dort in die Industrie, wo man Flugzeuge plante, die man irgendwann auch wieder würde offen und frei bauen dürfen. Daß seine Herkunft als doppelbödig und weniger koscher angesehen wurde, ließ man ihn spüren, aber er machte sich weniger daraus als seine Mutter, die durch die leiseste Kränkung gegen ihren Jüngsten zu furiosen Ausbrüchen gereizt wurde. Er überhörte einfach Sprüche wie den, daß halbe Juden immerhin schon halbe Menschen seien. Er konstruierte, er entwarf, er baute an seinen Maschinen und seinem Leben, heiratete 1924, als schon ein Mädchen unterwegs war, die erste und einzige Tochter, eine gut christkatholische Oberbayerin, die keines seiner Interessen teilte, aber vorerst eisern in allen Fragen seine Partei ergriff. Fünf Jahre später kam der erste und einzige Sohn zur Welt, das war es dann, jedenfalls im Hinblick auf die Kinder. Noch einmal vier Jahre später, nicht einmal ein halbes Jahrzehnt, war Adolf da und die Welt eine andere und doch die alte und irgendwie ging es weiter, mit mehr Bemerkungen und mehr von dem harten Stoff und mit größeren Schwierigkeiten, den Dreck herunterzuschlucken und die Ohren zum Schutz über die Gehörlöcher zu klappen. Aber immerhin sollte ja der dicke Hermann, der Reichsfischfüttermeister, bei dessen purer Physiognomie er schon würgen und kotzen mußte, gesagt haben, wer Jude sei, bestimme immer noch er, und vielleicht gab es für einen Halbjuden noch ein Plätzchen als Schutzhalbjude unter den Fittichen der deutschen Luftfahrt.

Im April 1933 ließ sein Vater sich scheiden, trennte sich nun auch definitiv und öffentlich von seiner Katharina, die wenige Wochen später ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag feierte, mit viel weniger Gästen als sie gedacht und eingeladen hatte, aber dafür mit einem trotzigen Pomp, der dem natürlich abwesenden Ex-Gatten noch in der Erzählung aus zweiter und dritter Hand signalisierte, daß die Kaiserin sich nicht nur nicht geschlagen gab, sondern nicht einmal das Gefühl hatte, eine kleinere Bataille sei verlorengegangen. Alle ihre Kinder waren gekommen, sogar die weniger geliebte und unter der Hand mit dem Vater konspirierende Tochter, aber es stand vor jeder Diskussion fest, daß der jüngste Sohn als Liebling der Götter und Liebling der Mutter an ihrer Seite saß wie eine Art Prinzgemahl, wie er auch ein Jahr später erneut statt seines auch hier abhanden gekommenen Vaters ganz vorn an ihrem offenen Grab stand und die Trauernden ihm zuerst die Hand drückten - die, die noch im Lande waren von ihrer eigenen Seite her und die aus der angeheirateten Verwandtschaft und dem weitläufigen Bekanntenkreis, die sich nicht mit faden Ausreden entschuldigten, stumm wegblieben oder den Trauerbrief mit dem Vermerk "Annahme verweigert" zurückgeschickt hatten. Sie hatte sich das Schlimmste dadurch erspart, daß sie starb, ehe sie zwangsweise wieder zur Esther wurde.

Als er abschmierte und sich in den Grund bohrte und nicht das irre Glück hatte wie damals über Flanderns schlammigen Feldern, war sein Junge nichts als ein Schulbube, ein verheulter bebrillter lederhosiger und knopfäugiger Schulbube, der nicht einmal wußte, daß er im Prinzip nicht nur keinen Vater, sondern auch keinen Großvater mehr hatte. Der von der Seite der Mutter war - reichlich Bier und Enzian im Blut - mit Pferd und Wagen in einen reißenden Fluß gesteuert und erst drei Tage später wieder hervorgekommen und der vom Vater her lebte zwar noch, hatte aber nach der Scheidung kein Wort mehr mit dem Sohn und dessen Familie gesprochen und keine Zeile geschrieben außer einem kurzen Brief in vier Durchschlägen, in dem es hieß: "Ich habe keinen Sohn mehr. Meine Söhne haben gezeigt, was in ihnen steckt und welches Blut in ihren Adern sich durchgesetzt hat, als sie ihren Vater und unsere Rasse verraten haben und sich auf die Seite einer Frau gestellt haben, deren Vorfahren und Blutsgenossen seit Jahrhunderten am deutschen Volkskörper schmarotzten und schmarotzen. Spät, aber nicht zu spät habe ich erkannt, wie diese Frau mich betrogen und meinen Namen geschändet hat. Erst wenn meine Söhne dies auch erkennen sollten, werde ich wieder ihr Vater sein. Wenn nicht, sollen sie verloren und verflucht bleiben." Der Junge wußte auch damals noch nicht, daß es dieser Großvater war, der seinen eigenen Sohn in einem Brief - gesiegelt mit dem freiherrlichen Siegel - bei den Behörden denunziert hatte als Halbjuden, der voll und ganz zum verworfenen Volk halte und der gerade aufgrund seiner Fachkenntnisse und seiner beruflichen Stellung zur Gefahr für Deutschlands Sicherheit und Größe werden könne. Der Junge ahnte damals auch noch nicht, daß dieser ältere Herr sehr alt werden sollte, nach dem Kriege von sich aus wieder Verbindung zu ihm aufnahm, um gelegentlich etwas zu murmeln von alten Geschichten, die man gewesen sein lassen und ruhen lassen solle. Erst, als der Ahn Anfang der Fünfziger unter der Erde war, wurde dem vater- und großvaterlosen jungen Mann nach und nach klar, wie die familiären Angelegenheiten im Blick zurück höchstwahrscheinlich aufzuwickeln waren . . .


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