Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Zweites Kapitel

DER TOD

Ein Mann stirbt, allein, wie sonst auch, wie auch sonst. Eine Frau ist fast bei ihm, die sofort flieht. Ein Toter, aber zuerst kein Täter, danach zwei Täterinnen, die es nicht sein wollen.

Der Mann, aber war das überhaupt ein Mann? Das kurze Märchen kurz vor Ende des zerfledderten rotgelben Buches und kurz vor dem Bild des Riesen Eisenhans. Das Märchen von dem Menschen, der noch keiner ist und von dem Menschen der nie einer werden wird, ein Mann aber kein Mensch, ein Mensch aber kein Mann.


Es war der Tag, an dem alle innerdeutschen Minen geräumt waren oder dies doch jedenfalls verlautbart wurde, an dem in der späteren Hauptstadt das zweite wohlaufe Retortenbaby zur Welt gebracht wurde, oder war es am Vortag und wurde dann erst berichtet. Hertie weitermachte bis auf weiteres in Dortmund Castrop-Rauxel Wanne- Eickel, sieben Häftlinge in Bologna sich aus einem Wandloch neun Meter tief in eine Kirche abseilten, zwei Bürger der Stadt Fulda um Mitternacht noch unter den Trümmern eines dreistöckigen Wohnhauses lagen und Gasgeruch in der ganzen Straße zu bemerken war, in England die Herrenweste als Rock sowie der Gürtel als Schlips fürs Oberhemd und in Frankfurt der Nasenhut zuerst den Modejournalisten vorgestellt wurden, eintausend Soldaten in Flensburg und fünfhundert in zwei weiteren Flensburger Kasernen nach durch Erbsen, Würstchen, Hirschgulasch und Eis verursachten Brechdurchfällen bis auf drei Kranke wieder einsatzbereit waren, eine Fliege an Bord für Aufregung sorgte, lange Staus zum langen Samstag erwartet wurden, die ukrainische Kuh „Katschalka“ ein Kalb mit fünf Beinen zur Welt brachte, zwei skandinavische Flugzeuge beinahe zusammenstießen, das Ausmaß des Erdbebens in Mexiko sich als noch schlimmer als befürchtet herausstellte, Bhagwan wieder öffentlich und wieder in Handschellen auftrat, der November grau in grau begann, am Feldberg der erste Schnee des Jahres fiel und ein Schuß ins Herz einen Jäger tötete, jedenfalls für die Zeitungsleser, die jetzt davon erfuhren, was zwei Tage vorher geschehen war und einen Tag vorher der Aufklärung nähergebracht wurde durch einen Einsatz starker Polizeikräfte und des Sondereinsatzkommandos im Morgengrauen. Es war der zweite November 1985.

Der Mann, nicht gerade für den Wald gekleidet, in einem stumpfen Grau die Jacke, Exquisit mit Kaschmir, Hirschhornknöpfe, hatte seinen Jeep am Ende der Forststraße gewendet, wie er es immer tat, wenn er ihn an dieser Stelle abstellte. Er hatte die gute Jacke gegen einen usseligen Militärparka vertauscht, sie gefaltet weggeschlossen im Kofferraum und war vor zum Hochsitz. Es hieß später, er sei zum Anfüttern dort gewesen. Das war das, was er seiner Herzdame gesagt hatte. Da es keine vernünftigen Zweifel an dieser Version gab, denn warum sollte eine offizielle Geliebte eines toten Mannes lügen oder warum hätte dieser tote Mann seine offizielle Geliebte belügen sollen in solchen kleinen Dingen, hatte auch die Staatsanwaltschaft keine Zweifel. Daß es eine Affäre hätte gegeben haben können parallel zu der Hauptaffäre, von allen sonst unbemerkt, die in keine Akte Eingang fand, darauf kamen die Staatsanwälte nicht. In allen Berichten hieß es daher, der Mann sei allein gewesen, allein mit einem Köter, der ihn nicht rechtzeitig gewarnt hatte, aber dafür an der Leiche die Totenwache hielt. Ganz allein war er erst ganz am Ende, als er keinen hätte brauchen können. Ehe er ganz tot war, war er nicht ganz allein, zwar noch nicht zusammen mit jemand, aber jedenfalls kurz davor und erst im letzten Moment fiel diese Tür ins Schloß und wurde es nichts mehr aus diesem Treffen in dieser Welt, wurde es nichts mit lustig.

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