Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Erstes Kapitel

Los und weg

Raith parkte seinen Wagen, Dritthand rostbraun, auf einem halb von einem Bautrupp umgepflügten Eckgrundstück, schubste fast das transportable Blechklo mit dem Heck um und zwängte sich an der Trennmauer heraus. „Jetzt geht's ab“ stand auf dem zerfledderten Reiseplakat. Er stolperte über den Flaschen- und Papiermüll, holte seine Kamera aus dem Kofferraum und fotografierte gebückt die romantische Ecke. „Junger Mann“, säuselte eine Rothaarige Mitte Vierzig hinter ihm, „der Dreck ist bald weg. Ihr solltet nicht immer das Negative suchen.“ „Dess heißt die Negative, alte Frau“, antwortete er, mal wieder ungeheuer witzig. „Außerdem hab ich dess genau gesehn, wie Sie gestern nacht den Mist hier hingekippt habn.“ Sie wollte gerade loslegen, aber er zog seine Messingmarke aus der Tasche, die hatte er vor zehn Jahren als Stammkunde im Freibad Rheinau bekommen, diesem grünbraunen Anglerteich. Auf einmal wurde die Dame klein mit Hut und trollte sich. Der Tag wurde heiter.
Er kopierte im Copyundkoffieshop unter belanglosen Prospekten versteckt ein paar Schmähbriefe, die er anonym an einige Führungsfiguren schicken wollte, faßte geschickt und unauffällig mit einer der Prospektkopien die Briefkopien, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Er vertat ein wenig Zeit damit, der Bediensteten hinter der Ladentheke („Sie sind Ihr eigener Chef“) einige abgelutschte Komplimente zu machen und ihr vergeblich zuzureden, ihn nach Feierabend zu treffen. Aber die ließ ihn auflaufen. Außerdem kam noch ein Schüler, der sein Paßfoto vergrößern wollte, „so groß es geht“ und mit dem halben Zeitungsformat war er noch nicht zufrieden, obwohl auch die Pickel wuchsen. Raith zog mit einem erwartungsvoll-drohenden „Bis bald einmal“ ab.
Er ließ seinen Wagen vor der Mozartschule, Ecke S2/R3, die großen Kinder kamen gerade heraus, riefen sich über die Straße einige Gemeinheiten zu und lachten darüber, daß ihm beim Aussteigen das Schlüsselbund aus der Hand fiel. Er öffnete das Auto noch einmal, um die Scheibe hochzukurbeln. Erst hatte er sie wegen der Hitze einen Spalt offenlassen wollen, aber dann war da eine seiner Visionen, es könne einer mit dem magischen Draht kommen und den Schließknopf nach oben ziehen.
Weil ihm die angeschlagenen Dreimarkfünfzig billig genug schienen, marschierte er in eine DönerundPizzabude. Am Ofen schwitzte eine ältere Frau unter ihrem weißen Kopftuch. Die zugehörige junge bediente ihn, schaute ihn auffordernd und anscheinend nicht ganz uninteressiert an. Sie trug kein Kopftuch und schien auch sonst nicht allzu zugeknöpft und verhüllt zu sein. Sie hatte diese nachtschwarzen Haare und tiefdunklen moorkuhligen Mohrenaugen, die Raith so liebte, schon weil sie ihm so nah, seinen eigenen so ähnlich waren, weil sie zur Familie gehörten. Wenn es auch eine Art Inzest war, ich besteige meine Schwester, wir sind wie Zwillinge und jetzt wie Mann und Frau, ist das nicht schrecklich, aber so bin ich eben, was macht das schon.
Zwei jüngere Türken würfelten am Nebentisch und redeten wild durcheinander. Raith bedauerte, daß er außer einem der übelsten türkischen Schimpfworte nichts verstand. Einer der beiden kam urplötzlich auf ihn zu, kaum daß er seine magere Bestellung aufgegeben und sich mit seiner griffbereit an einen Wandhaken gehängten Handtasche installiert hatte, das altgewohnte Springmesser und der noch nie benutzte, aber beruhigende Schlagring gut verpackt, all inclusive.
Der Mann schaute ihn prüfend an, faßte leicht an Raiths Gürtel (aus Algerien, um das Schwarzgeld irgendwie kleinzukriegen und am Flughafen wollten die Zöllner nicht glauben, daß er in zwei Wochen nur die hundert Mark vom offiziellen Umtausch verpulvert hatte, aber sie hatten ihm dann doch nicht die Socken umgekrempelt, wo sie den dinarigen Rest und einiges Undeklarierte gefunden hätten). Er sagte: „Der Gürtel ist verdreht, um 90 Grad.“ Raith glotzte stumm an sich herunter. Erst wollte er abtasten, ob da beim eiligen Sich-Anziehen wirklich etwas durcheinander geraten war, aber dann ließ er es. Er nahm das Glas Ayran an, das ihm ungefragt von der Jungen gebracht wurde - diese Salzmilch, die er damals als einziges bestellt hatte in einem orientalischen Spezialitätenrestaurant, die Preise hatten ihm den Appetit verdorben, unser Raitherchen schaute dem Balztanz zu, den zwei Geschäftsleute um eine platinbehangene und platinblond ondulierte Theaterdame aus Istanbul aufführten, und ging hungrig weg, weil da gerade mal wieder die totale Ebbe war, glatte Wüste in der Kasse.
Aber jetzt, jetzt war er wieder hoch, hatte Geld gebunkert und war gut dabei. Der Gedanke an die Türkin hinter dem Tresen reizte ihn maßlos. Auch wenn es heiße Ohren geben konnte. Der Gürtelkritiker bot ihm ein Glas Tee an, das sei gut bei dem heißen Wetter, gut für den Durst und für den Magen. Raith trank auf ex, peinlich berührt von unerwarteter Großzügigkeit und von den Brandblasen im Hals. Er überlegte, ob er nun ein Gespräch beginnen müsse, angereichert mit Vorschlägen über Markteroberungsstrategien und den Reiz eines frischen Minzeblattes im Tee. Aber wie so oft kam er nicht rechtzeitig in Gang, halt nicht von jetzt auf gleich. Die beiden Türken beäugten ihn wartend und lauernd von der Seite. Sie hatten sich synchron abgewandt, als eine ältere Frau hereingezottelt kam und ein Fladenbrot verlangte. Als sie wieder abzog, wandten sich die beiden wieder um.
Die Stille machte keinen Spaß. Bezahlt hatte er, die türkisch-vegetabile Pizza und die kostenlosen Getränke hatte er intus. Er entschied sich für schleunigsten Abgang, murmelte: „Ich muß jetzt aber wirklich gehen, bis dann.“ Die beiden glotzten ihn mit offenem Mund an. „Warten Sie noch, ich will Sie fragen“, rief das Mädchen hinter der Theke, aber er war schon abgetreten, ins Auto und weg. Im Losbrettern hatte er aus den Augenwinkeln gesehen, wie einer der Männer wie zufällig aus der Ladentür schaute und ihm mit einer seltsamen Geste zuwinkte, bei der sich der ausgestreckte Daumen abwärts zu bewegen schien. An der nächsten Ampel überprüfte er den Sitz seines Gürtels: exakt, nichts zu meckern, obwohl er sich bei Carla einigermaßen schnell in Schale geworfen hatte, ihre Mittagspause war kurz und sie mußte zwei Stationen mit dem Bus fahren - zwei hin, zwei zurück, dazwischen finde ich das Glück, im Sand, im Sand.

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