Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Ein Verschwundener

Manches, das wird niemand bestreiten, scheitert schon an der Größe oder Kleinheit eines Körpers, an Größenunterschieden, an Besonderheiten, wie einer seine Augen hebt oder senkt. Nicht hier gilt das, zunächst jedenfalls nicht. Nikolaj heiratete Sima, die eigentlich Serafima heißt, obwohl er fast einen halben Meter größer ist als dieses durchsichtige Mädchen. Sie lernen sich kennen im Jahr 1927 auf einem Ball des NKWD, zu dem Lucia, eine Mitarbeiterin dieser Behörde, ihre Schwester eingeladen hatte. Nikolaj Antonowitsch war im Besitz einer schriftlichen Einladung, während Sima einfach so mitgenommen wurde von Lucia. Lucia wußte eben, daß ihren grauen Augen und ihrer blonden Grandezza kein Türsteher widerstehen würde, und wenn er hundertmal Anweisung bekommen hatte, nur Gäste mit offiziellem Revers zuzulassen, und zur Not würde sie durchblicken lassen, daß drinnen ein General oder ein Mitglied des Obersten Sowjet auf sie warte.
Serafima und Nikolaj schauen sich an, aus sicherer Entfernung, aber mit auffälligen Blicken, die zögern, weiterwandern, wieder zurückkehren, erschrocken kehrtmachen und doch in kürzester Zeit wieder dem Magnetismus erliegen. Serafima glaubt, Nikolaj gehöre zu der Spitzelbande, obwohl er es doch nur nicht hatte umgehen können, mitzukommen mit einigen anderen Militärs. Er ist umringt von Freunden, gefährlich durch eine heillose Naivität, und von „Freunden“, die alles andere als naiv sind und die nichts finden würden, ihm einige Jahre Magadan zu bescheren. Nikolaj glaubt, Serafima habe wie ihre Schwester, von deren Arbeit in der zentralen Geschäftsstelle er weiß, sich mit Leib und Seele der Kundschafterei verschrieben. Auch Lucia sieht er nicht richtig. Sie ist nicht die fanatische Jungkommunistin, die Vater und Mutter ans Messer liefert und von irgendeinem Onkel als Schandfleck der Familie erstochen und verbrannt wird und so aufsteigt zu einer der Martyriumsheiligen des roten Oktober. Sie ist – durchaus gegen ihren Willen und gegen ihre ursprünglichen Absichten – wegen ihrer geradezu kalligraphischen Handschrift an die geheime Front berufen worden, hat sich nur kurz und halbherzig gegen diesen Ruf gewehrt und dann beschlossen, ohne allzuviel Begeisterung das Beste aus dem Unvermeidlichen zu machen und sich durchzumogeln durch die mörderischen Zeiten. Auch wenn dies gelegentlich bedeuten mag, zur Überprüfung der revolutionären Gesinnung den einen oder anderen Volksfeind in einem Kellerraum oder in einer Hofecke eigenhändig zu erschießen – und zwar so, daß kein Sich-Bedenken und Zittern sichtbar wird oder auch nur unterstellt werden kann. Für sich selbst hat sie die Gewißheit, daß sie nur insoweit zum Apparat gehört, als es hilfreich oder unumgänglich ist. Nikolaj, der nichts mit den Kundschafterinnen und nichts mit Sima zu tun haben will, tanzt dennoch mit ihr. Und sie tanzt mit ihm, als hätte sie damals schon gewußt, daß er tatsächlich ein Militärarzt ist und nicht nur unter der Legende eines Militärarztes vorgestellt wurde. Eigentlich ist der eine Tanz genug, um sich gefunden zu haben, sich in die Arme zu fallen und miteinander zu sein. Es ist an diesem Abend, als sie noch spät mit einer verhängten Kutsche oder ist es doch ein Taxi durch die leeren Straßen fahren, daß er annimmt, sie sei noch Jungfrau und daß er ihr seinen ersten Heiratsantrag macht. Sie weigert sich zweimal, ihn zu heiraten, und das nur aus dem einen Grund, daß sie fürchtet, er werde sie bald wieder verlassen oder sie betrügen und schlagen und sie, die alles aber auch alles für ihn getan hätte, werde krepieren wie das letzte Stück Vieh, mit einem in Stücke geschlagenen Herz oder mit einem, das herausgerissen und auf die Straße geworfen wird ...

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