Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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DER GAST DES GOUVERNEURS IN DER WAND
DES KRATERS

LESEPROBE



Erstes Kapitel
2. 12. 1979 - 6. 12. 1979

Es war heißer hier als in New Orleans, und in dem flachen Flughafengebäude gab es nicht einmal eine Klimaanlage. Im Grunde konnte von einem Flughafen angesichts dieser von Schlammlöchern durchsetzten Wiese keine Rede sein. Aber immerhin - le Père Jean-Pierre, Jean-Pierre Mihiel, JPM, der heimliche Botschafter der großen Nation, Professor der Sorbonne und Doktor der Rechte, verheiratet und dreikinderig, left-wing rightist und right-wing leftist, right-wing rightist und left-wing leftist, alles einmal gewesen, war unten. Er war allein, niemand wartete auf ihn, und in der kleinen Horde von einheimischen, englischen und nordamerikanischen Geschäftsleuten, die von der Gangway des weißen TACA-Flugzeuges, das DER ERLÖSER hieß, zur Zollkontrolle bummelte, kannte ihn niemand und kannte er niemanden.

Am Rande des Rollfeldes versteckten pestgrüne Tarnnetze Militärmaterial, wohl Flakgeschütze, vielleicht auch einige Panzer und einige der berühmten Senkrechtstarter. Der Beamte schaute kaum auf, als JPM ihm seinen Ausweis zuschob, dort aufgeklappt, wo die britische Botschaft im Zuge der konsularischen Amtshilfe ein Vierteljahresvisum eingetragen hatte: "Sie können eine Woche bleiben." "Aber ich habe doch ein Visum für drei Monate." "Wir wollen großzügig sein. Sie können zwei Wochen in unserem Land bleiben, dann müssen Sie wieder über die Grenze. Hier bestimmen wir." Er machte eine wegwerfende Handbewegung und stempelte in den Paß "Hat Belize bis zum 17. Dezember zu verlassen."

JPM hatte seit Jahren eine mysteriöse und bisher platonische Beziehung zu diesem kleinen Ländchen empfunden, zu diesem Anhängsel Yucatans, zu diesem schmalen Fetzen zwischen dem Riffgürtel und dem großen Lacandonen-Wald des Petén. Er hatte sich mit einigem Aufwand die einzige in etwa verläßliche Karte besorgt und Routen entworfen, die quer durch die Maya-Berge führten, durch Gebiete, in die vielleicht, so hieß es in einem Buch, noch nie ein Weißer gelangt war, wo Opferpyramiden und Tempelpaläste unter dem Gewucher sein mußten, Jaguare und Ozelote, Jagdrevier der Schatzgräber und des unausgerotteten Restes der Waldindianer, immer bedrohtes Terrain der Holzfäller und der Chicléros. Sein Enthusiasmus war zwar ein wenig gebremst worden, als er endlich kapiert hatte, daß auf der Karte alle Höhen in Fuß angegeben waren und daher keine Dreitausender auf ihn warteten, sondern Hügel, die knapp die Tausendmetermarke übertrafen, aber er hatte dennoch weiterhin imaginäre Linien durch das Land gezogen, Trails zu den letzten wirklichen Indios im Süden und zu den Hundert-Hektar-Farmen der mennonite settlers im morastigen Norden, deren altertümlichen deutschen Dialekt er dann doch nur in jenen Brocken hörte, die eine alte Mestizin behalten hatte, aus ihrer Zeit als Hausmädchen, zwanzig oder dreißig Jahre zurück. Er plante Abstecher nach Yukatan, unbeobachtete und unerlaubte Grenzübertritte ins feindliche Guatemala, wochenlanges Inselspringen am Korallenriff entlang, in einem lecken Fischerkahn, auf dem er in der Sonne schlafen konnte. Seine Vorbereitungen waren wie immer fragmentarisch und zufällig geblieben, keine Voranfrage wegen Quartier, keine exakten Tagespläne, sondern ein einziges Blatt mit Stellen, die er unbedingt sehen wollte, und auch davon blieb mehr als die Hälfte unerledigt auf dieser Reise. Ohnehin gab es keine vorbereitet kaufbaren Exkursionen, allenfalls kurze Abstecher in Verbindung mit karibischen Segeltörns oder mit Ruinenkonsum in Mexiko oder im Petén. Er hätte um keinen Preis jemals eine fertige Reise kaufen mögen, und diesmal wäre es für ihn erst recht unmöglich gewesen. Er wollte bleiben, für Jahre oder doch zumindest erst einmal für einige Monate, um vielleicht nach einer längeren Sondierung für kurze Zeit zurückzukehren, seine letzten kleinen Dinge zu regeln und dann endgültig sich hier zu verankern. Die Begrenzung auf zwei Wochen Bleibefrist hatte ihn zwar unsicher gemacht, aber noch nicht allzusehr erschüttert und angeschlagen. ER würde es schon möglich machen, wenn er erst einmal sein Basislager errichtet und die ersten Verbindungen geknüpft hatte.

Natürlich gab es keinen Bus in die Stadt, nur einige Taxifahrer, die geierig die Angekommenen einzufangen versuchten. JPM, der sparen und seine Rücklagen sichern wollte, hatte Glück, ein Farmer nahm ihn mit, auf der Ladefläche seines Pickups, ganz umsonst. Von der Wellblechpiste aus, zwischen Schilfgebieten und kleinen Plantagen, sah er wracke Häuschen, in Rosa und Grün, vielleicht einst für die Sklaven gebaut, Wasserfässer auf den Dächern, bunte Wäsche überall, unter einem Türkishimmel, die Restwolkenbänke der gerade gewesenen Regenzeit, Häuschen, die ihn seltsamerweise an Cambrai erinnerten, wo er herkam, die abgebrannte Stadt der Arbeiterkaschemmen und der Innereien, des fetten Essens und der klaren Fronten, Freßkumpane, Saufkumpane, Zuckerrübenfelder und Stahlwerke, Weizenfelder und Seifenfabriken, die Stadt, in der seit über tausend Jahren Erzbischöfe untergekrochen waren, die Stadt, in die er nach der Schulzeit kein einziges Mal mehr zurückgekehrt war, seine Eltern mußten ihn in Saint-Denis besuchen, und gelegentlich hatte er sie in Arras getroffen und dort sogar übernachtet, es war sein weitester Vorstoß auf die eigenen Anfänge zu. Belize City, zwei richtige Straßen längs, eine quer, Maultierkarren auf der rostigen Brücke, du darfst nicht stehen bleiben, daß nicht zuviele absaufen wenn sie wegknickt, Regent Street, die Schwingebrücke, die Boote an Mom's Restaurant.

Er lief ein wenig herum, gabelte einen englischen Soldaten auf, der ihn als das größte Arschloch bezeichnete, das sich denken ließ, wenn er freiwillig in dieses sterbenslangweilige Pißland käme. JPM steckte die Beschimpfung still weg, ja er stammelte zu seinem eigenen nachträglichen Ärger eine halbe Rechtfertigung, er habe hier geschäftlich zu tun, was den Tommy zu der gnädigen Replik veranlaßte, so bescheuert seien selbst die Franzmänner nicht, hier am Arsch der Welt auf Urlaub zu mimen. Als JPM aber keine Anstalten machte, einen auf die Krone und Englands Glorie auszugeben, trat das Militärschwein den Rückzug an. Dafür wieselten angebliche oder tatsächliche Fremdenführer und Reisebüroagenten um JPM herum, offerierten ihm Motorbootfahrten und Kleinflugzeugflüge zu den Cays: Cay Caulker, Ambergris Cay, Halfmoon Cay, klangvolle Versprechungen, aber ihm erschienen die Angebote zu teuer. Es war zu früh, eine Entscheidung zu treffen. Er suchte erst einmal ein Dach über dem Kopf und fand ein kleines Hotel am Fluß, zwischen einem weißgestrichenen Lagerhaus und zerzausten Palmen, uferlos durch eine rissige Mauer. Der Fluß war kaum gekräuselt, ein öliges, fast starres schattiges Silbergrau, einige Pfähle im Wasser zum Vertäuen der Boote. Ein oder zwei Stunden lag er da, den dunkelgrünen Moskitoschleier, weil es kein Gestell gab, auf dem Gesicht und auf der Brille, und hörte dem Glucksen des Wassers zu, dem Geräusch der Ruder und der Außenbordmotoren. Der Hotelbesitzer, ein älterer Weißer in einem nicht sehr weißen Unterhemd, kam, gab ihm den Paß zurück, den er abgeschrieben hatte in sein zerfleddertes Gästebuch. Für den war er nun Mister Brun, benannt nach seinen schönen braunen Augen, aber JPM gab nicht dem Wunsch nach, seinen Gastgeber zu belehren, wo in einem französischen Paß der Familienname und wo die Augenfarbe zu finden ist. John-Peter Brown, warum nicht? Er döste noch etwas vor sich hin, stellte sich dann unter die warme tröpfelnde Dusche, zog frische Socken an, Ausgehuniform, Jagdkleidung, und durchstreifte die Straßen um das Gouverneursgebäude, die verspielten weißen Eisengeländer, karibisches Rokoko, oben ein ochsenblutroter Aufbau, den Wasserbehälter verbergend, von hier aus würde in die Menge geschossen werden, wenn es je einen Aufstand hier geben sollte, Bretterzäune und Mädchen mit dem Kanister auf dem Kopf, Balkenstapel kreuz und quer geschichtet, dunkle Markthallen, "Belize Distributors Limited", an das Wasser stoßende Bretterbudenruinen, vom letzten oder vom vorvorletzten Wirbelsturm, Enklaven kurzer Schrecken, Abfälle reichlich verstreut, Einladung an die Ratten für die Nacht, Schwarzweißbastarde mit blonden Haaren und blauen Augen, schwarze Kariben, schwarze und braune Frauen hinter den Ständen oder auf den steilen Haustreppen, Korkenzieherhaare, ein feilschender chinesischer Urgroßvater und ein indischer Händler mit einem Blick, als habe er gerade Judas den letzten Silberling abgeknöpft.

Die Normaluhr auf dem Türmchen, eine echte Antiquität, war nicht weitergekommen in den Stunden seiner Siesta. "Alles steht", murmelte JPM halblaut vor sich hin, "nicht einmal die Zeit macht sich weg." Er kaufte eine gelbe Regenjacke "Made in Korea", in der er in Tikal fast krepieren wird in der nassen Hitze, nahm beim Bezahlen vorsichtig das Geld aus seinem Geldgürtel, die Stadt sollte abends und nachts unsicher sein, wie er gelesen hatte im Reisebericht eines Autors, der vielleicht bei einer hurrikanbedingten Zwischenlandung ein paar Stunden an diesem Platz war oder sich doch einmal unterhalten hatte mit einem, der hier gewesen war. "One-dollar-Amandala" rief ein Zeitungsjunge mit einer Unablässigkeit, die einem Wochenblatt voller Sterbeanzeigen und Kleinstadttratsch den richtigen rhythmischen rituellen Flashback-Flair gab. Er kaufte die Zeitung, las etwas über Assad (ASSad) Shomans große Rede am Vorabend großer Entscheidungen. Die Nationalen hatten einen halbzerfetzten Schuh in das Fenster ihres Parteilokals gestellt und forderten die Wähler auf, den gottverdammten Kommunisten Schuh-Mann Show-Mann auf den Müll zu werfen: "Der erste Gesundheitsminister der Welt, der krank im Kopf ist." "Hey, George Price, welchen Preis hat dir Moskau für unser Land gezahlt?" fragte ein anderes selbstgemaltes Pappschild den momentanen Premier, ein drittes gratulierte ganz artig George Cadle Price zum Sechzigsten und forderte ihn auf, endlich in Rente zu gehen. "Schauen Sie sich diesen Dreck an," hörte JPM es hinter sich, es konnte eine vorwurfsvolle Frage sein oder auch eine Aufforderung, einen tiefen Einblick zu nehmen in die Abgründe unfaßbarer Dummheit. Sein Hotelier stand hinter ihm, noch immer ohne Hemd und Dinner-Jacket. "George ist ein As, Mister Brun, ein guter Freund von mir. Der Araber, na ja, wie soll ich sagen, der ist ein kluger Kopf und weiß eine Menge. Aber George, wissen Sie, wir sprechen oft miteinander. George, sage ich ihm, du bist die Numero Eins, du bist unser As, du mußt das Pik As für die Nazis werden. Die Todeskarte, verstehen Sie, Ende aus vorbei. George, sage ich zu ihm, wir räumen sie weg, wenn du uns rufst." JPM wurde verlegen. George Price, von dessen Existenz er heute zum ersten Mal gehört hatte, war ihm durchaus sympathisch, der Hotelier auch. Er hätte die rote Fahne ausrollen und die Blutsbrüderschaft besiegeln können, es lebe die Volkseinheit, es lebe die Vereinigte Volkspartei, a new Belizean nation will be born from the ashes of colonialism, mit erhobenem Glas, ein Prosit darauf, auf der richtigen Seite zu stehen. Aber er merkte im Moment, daß er hier nicht zuhause war, daß er keinen Schimmer hatte, keine blasse Ahnung. "My best wishes to comrade Price," stammelte er und zog belämmert ab.

Im Bellevue-Hotel trank er einen lauwarmen Gin, klimperte ohne lange zu fragen ein paar Takte auf dem morschen Klavier, bis einer der superkorrekt gestriegelten Blackboys kam und ihn mißbilligend ansah, abgedunkelte Klimainsel, Rückzugsrattenloch für all die europäischen Parasiten, die hier irgendein Pflichtprogramm abzumachen hatten. Später am Abend aß er in einem chinesischen Restaurant am Fluß, Krabben und Gemüse durcheinander, die ewige Angst vor einer Ansteckung, die ihn außer Gefecht setzen könnte. Er traf einen Frankokanadier, der hier nach Absatzmärkten und Kapitaleinstiegen Ausschau halten sollte und den ganzen Abend über ihm von Venedig und Siena vorschwärmte - ein ganz anderer Himmel, andere Farben und die unverstellte Freundlichkeit eines Schlachters, der ihm seinen Laden zeigte und die einzelnen Sorten pantomimisch erklärte und sich herzlich verabschiedete, obwohl er nicht kaufen wollte und nichts gekauft hatte. Das Essen endete abrupt damit, daß JPM aufstand, seine Rechung im Hinausgehen bezahlte und dem halben Landsmann zurief, er wolle nichts mehr von Europa hören, das mache ihn ganz krank.

In seinem Zimmer lief der Ventilator nicht mehr. Es brauchte einige Minuten, bis die stickige Hitze vertrieben war. JPM lag auf dem Rücken, beobachtete eine Eidechse an der Decke und verfluchte den Umstand, daß das Bett neben ihm leer war. Die strategische Vorplanung des nächsten Tages unterblieb. Mit weißem Rum brachte er sich in den Schlaf.

Es war ein spontaner Entschluß beim Frühstück, nicht länger hier zu bleiben, sondern sofort aufzubrechen in den Süden. Die Regenzeit war gerade zu Ende und die Straße zur südlichen Grenze wieder passierbar. Allerdings ließ sich nicht klären, ob schon wieder Busse fuhren. Er wollte jetzt weg, wollte weiter, so weit es ging, nur nicht über die Grenze.

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