Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Leseprobe zu:

Friedrich der Reiche. Ein Märchen wie es manchmal vorkommt

In einem Dorf lebte früher einmal eine Familie. Na und ? In jedem Dorf lebte früher eine Familie und zwei und noch mehr. Und heute ist es nicht anders. Ja, aber in dieser Familie hatten alle, wirklich alle, rote Haare und meergrüne Augen. Der Vater, die Mutter, die Töchter und Söhne, die Großmütter und Großväter, die Urgroßmütter und Urgroßväter. Also doch eine besondere Familie.
Wann das war ? Vor genau sechsundneunzig Jahren, in jenem Herbst, als schon im September Schnee fiel.
Wie das Dorf hieß und wo es lag ? Als ob das so wichtig ist. Aber gut, wenn du es wissen willst: Es war das Dorf Feeneborg. Das liegt dort, wo die Lohne in die Este mündet, etwa fünf friesische Meilen westlich von Ankum. Wer die Gegend kennt, weiß, daß das nicht weit vom Meer ist. Vielleicht erklärt dieser Umstand die meergrünen Augen. Und wenn die Sonne dort abends sich ins Meer stürzt, färbt sich der Himmel mohnblumenrot und rotweinrot. Daher vielleicht die roten Haare. Wie die Familie hieß ? Gerade wußte ich es noch. Der Name liegt mir auf der Zunge. Gleich wird er mir wieder einfallen. Jedenfalls gab es in der Familie einen Jungen, der Friedrich hieß, genauso wie sein Vater.
Friedrich war zwölf Jahre alt. Du hast recht, vorher war er nur halb so alt oder nur ein viertel so alt und nachher war er älter als zwölf. Aber in dem Jahr, von dem ich jetzt gerade erzählen will, war er schon zwölf. Oder erst zwölf, auch gut. Er ging schon ein paar Jahre zur Schule, hatte aber mehr und mehr das Gefühl, daß er noch nichts gelernt hatte. „Ich weiß fast nichts,“ seufzte er oft. „Ich weiß nicht mehr als mein Vater und der weiß rein gar nichts. Ich möchte so vieles wissen. Warum hebt und senkt sich das Meer ? Warum ist die Sonne ein runder Ball ? Warum fallen die Wolken nicht manchmal hinab ?“ Oft war er mit solchen Fragen zu seinen Eltern gekommen. Aber sein Vater hatte wenig Zeit und seine Mutter schickte ihn meist weg mit den Worten: „Frag doch Vater, der weiß eigentlich alles.“ Wenn der Vater Zeit hatte, dann antwortete er: „Friedrich, das sind Sachen, die weiß niemand. Ich nicht und der Lehrer nicht und der Pfarrer nicht. Gott wird sie wissen oder nicht einmal der.“ Friedrich schwieg grimmig, schlich sich hinters Haus, ballte seine Faust und stampfte wütend auf. Was er dann dachte? Na, ich denke mal ungefähr Folgendes: „Gott, immer nur Gott. Wie soll ich Gott fragen ? Woher soll ich wissen, ob er es will, daß ich das alles erfahre und weiß. Wie soll ich etwas lernen, wenn mir niemand eine Antwort gibt?“
Friedrichs Eltern waren Bauern. Außer den Bauern gab es in Feeneborg nur einen Gastwirt, einen Lehrer und einen Pfarrer. Und einen Hökerkrämer, der mit einem Pferdewagen seine Waren über Land fuhr. Es war ein reiches Dorf, das allerreichste rundum. Unter den reichen Bauern war Friedrichs Vater der ärmste. Er war sogar noch ärmer als der Pfarrer und der Lehrer und der Gastwirt und nicht reicher als der Hökerkrämer. Und dennoch war er dreimal so reich wie der reichste Bauer in den Nachbardörfern. Wer in Feeneborg lebte, hatte eben Glück. Mehr oder weniger, aber jeder ein bißchen. Warum das so war, wußte niemand. Nur Friedrich fragte nach dem Grund für all den Reichtum. Doch auch auf diese Frage bekam er keine Antwort.
Friedrichs Familie lebte in einem kleinen Schlößchen, das einmal ein großes Schloß gewesen war. Im Laufe der Zeit waren mehrere Flügel und Anbauten des Schlosses verfallen und eingestürzt. Friedrichs Großvater hatte schließlich all die Ruinen einreißen und den Schutt abfahren lassen. „Ein Zimmer für einen Menschen reicht,“ sagte er immer. „Ich will nicht durch leere Geisterzimmer laufen und mit den Spinnen Fangen spielen.“ Also hatte das Schlößchen nur noch elf Räume: Für jeden in der Familie einer, einer für die Köchin, einer für den Hofhund Greif. Den kleinsten Raum hatte Friedrich, was ihn furchtbar ärgerte. Es war Anfang September, kurz bevor die Schneefälle begannen. Friedrich hatte sich mit seinen Freunden Leuthold und Romuald verabredet, um im Waldsee nach Waldseekrebsen zu fischen. Sie hatten ausgemacht, sich um ein Uhr mittags an der Friedenslinde zu treffen. Die Friedenslinde ist ein uralter Baum, den vor dreihundert Jahren ein Bauer mitten im Krieg gepflanzt hatte, damit es endlich Frieden werde. Der Bauer war bald danach gestorben, ehe der Krieg zu Ende war, aber der Baum war gewachsen und gewachsen. Manchmal stand Friedrich noch abends spät unter der Linde. Er hörte die Schreie der Käuzchen und blickte starr über den Kanal, wo im Mondlicht die Fledermäuse herumschwirrten. Friedrich dachte dann darüber nach, warum es Kriege gibt, warum Menschen sterben müssen, warum der eine Baum wächst und der andere verdorrt, warum in einem Kanal Wasser fließen muß und warum eine Linde keine Eiche oder Birke ist. Aber jetzt war es hell, da dachte er an gar nichts. Er rannte zur Friedenslinde, weil er glaubte, schon zu spät dran zu sein. Er kam keuchend an - nichts. Kein Romuald und kein Leuthold. Er wartete eine ganze Stunde - keiner kam. Er versuchte immer wieder, über einige ungeklärte Fragen nachzudenken, aber es fielen ihm nicht einmal die allereinfachsten Fragen ein. Geschweige denn Antworten.
An diesem Tag sah Friedrich die beiden Wegbleiber nicht mehr. Erst am nächsten Tag, in der Schule, da konnten sie ihm nicht mehr ausweichen. „Wo wart ihr gestern, warum wart ihr nicht um eins an der Linde ?“ „Wir, äh, wir haben es vergessen.“ „Wart ihr denn am Waldsee?“ „Nein, ich meine doch, wir sind dann nachher noch hin.“ „Ihr wolltet mich wohl nicht mitnehmen?“ Keine Antwort, nur rote Köpfe und dumme Gesichter. „Keine Antwort ist auch eine Antwort,“ dachte Friedrich. „Ihr könnt mich mal. Ich brauche euch nicht.“ Er war wütend und enttäuscht. Zu gern hätte er gewußt, warum der dicke Leuthold und der dünne Romuald ihn auf einmal nicht dabeihaben wollten. Noch eine ungelöste Frage.
Immerhin ließ die Antwort auf diese Frage nicht allzulange auf sich warten. Nach der Schule hockten Romuald und Leuthold vor dem Schwärmerhaus und kauten gestohlene Sonnenblumenkerne. Friedrich schlich sich heimlich heran. Und was bekam er zu hören ? „Er hat es also doch gemerkt, daß wir ihn nicht mithaben wollten.“ „War ja auch kein Kunststück, das merkt selbst er.“ „Sollte er ja auch.“ „Eben.“ „Wollen wir uns etwa abgeben mit dem armen Würstchen?“ „Mein Vater sagt immer, wer nur silberne Teller hat und keine seidene Tischdecke, der ist kein richtiger Bauer.“ „Meine Mutter sagt, wer keine goldenen Schüsseln und keine Diamantknöpfe am Hemd hat, wie will der ein richtiger Mensch sein.“ „Ich fand schon immer, daß der Friedrich kein Umgang für uns ist.“ „Ich eigentlich auch schon immer.“ Dann rannten beide weg. Sie lachten laut und böse.
„Diese fiesen miesen Idioten,“ dachte Friedrich. „Sie halten sich für etwas Besseres und verachten mich. Dabei wissen sie noch weniger als ich und weniger als der allerdümmste Dorfknecht. Ich weiß mehr als ihr alle. Und ich will immer noch mehr wissen. Betet ruhig weiter, daß ihr noch dümmer werdet, als ihr jetzt schon seid. Ja, meine Eltern haben nur silberne Teller und Schüsseln und nur Tischdecken aus Damast. Ja, wir haben nur Knöpfe aus Rubinen und Elfenbein an unseren Hemden. Aber eines Tages werde ich alles haben, was ich will: Ein Schloß mit goldenen Fußböden werde ich haben und ihr werdet sie auf den Knien putzen müssen. Diamanten werde ich an jedem Finger tragen und ihr werdet sie abküssen müssen. Und dann nehme ich meinen goldenen Marschallsstab und prügele auf euch ein.“ Bei diesem Gedanken jauchzte Friedrich auf.

ABER ES KAM ANDERS. Am nächsten Tag begannen die Schneefälle, die bis in den kommenden August anhielten. Als dann gepflügt und gesät wurde, vertrockneten die jungen Halme im heißesten und trockensten Herbst, den es je gab. Die Ernte fiel aus, das Vieh hungerte, die Menschen stöhnten, fluchten und feindeten sich an. Jeder suchte nach Schuldigen für das allgemeine Unglück. Dabei begann das wahre Elend erst noch. Bis in den späten Winter hatten die Leute aus Feeneborg noch etwas kaufen können für das viele Geld, das sie auf den Banken und unter ihren Matratzen horteten. Über Nacht kam Nachricht aus der Hauptstadt, das alte Geld sei nur noch ein Hundertstel wert. Neues Geld erhalte nur, wer Getreide, Gemüse und Vieh, Gold und Edelsteine abliefere an die Aufkäufer des Staates. Da dauerte es kein Jahr mehr und die allerreichsten Bauern hatten den Aufkäufern für einen Spottpreis alles verkauft, was ihnen einmal gehört hatte: Ochsen und Schweine, Weizenvorräte und Hafersäcke, rosa Rüben und grüngestreifte Kürbisse, Goldteller und Edelsteinspiegel, Smaragdketten und Diamantzahnstocher. Auch in den Häusern der Sehrreichen und der Äußerstreichen regierten jetzt König Hungerweiter und Königin Ißnicht. Alle Tiere in Haus und Hof wurden verkauft und geschlachtet. Katzen und Hunde, Feldmäuse und Hausratten endeten im Kochtopf. Verhungerte Menschen lagen auf den Straßen und wurden nicht mehr begraben. Alte Frauen und Kinder bettelten vor den Türen derer, die selbst nichts hatten und nichts gegeben hätten, wenn sie etwas gehabt hätten.
Und Friedrich? Friedrich war jetzt vierzehn. Sein Vater und seine Mutter und die Großeltern waren gestorben vor Hunger und Verzweiflung. Die Köchin war spurlos verschwunden und mit ihr der Hofhund. Friedrich war jetzt der Älteste im Haus. Er mußte für zwei kleine Brüder und zwei kleine Schwestern sorgen. Sie liefen ihm Tag und Nacht nach und schrieen durcheinander: „Hunger, Hunger, wir haben Hunger. Und Durst außerdem. Und langweilig ist uns auch. Und so höllisch kalt ist es. Und durch das Dach regnet es.“ Also teilte Friedrich fünf Regenwürmer und zwei Handvoll Löwenzahn gerecht unter alle auf und kochte die Würmerstücke in Öl. Mit Wasser, Salz und Zucker richtete er seinen berühmten Löwenzahn-Wegerich-Salat an. So wurden alle satt. Er holte Wasser aus dem Brunnen und füllte es in die Gläser. Er goß einen Spritzer Apfelessig hinzu und alle tranken glucksend und gluckernd. Anschließend machte Friedrich Handstand und schlug Rad. Er kasperte und hampelte, daß alle zwei Stunden lang lachen mußten. Zwischendurch heizte Friedrich den Ofen mit höllisch qualmenden Weidenzweigen ein, daß allen die Augen tränten. Friedrichs kleines Zimmer, in dem sie jetzt zu fünft wohnten, wurde so auch im ärgsten Winter herrlich warm. Und während die Kleinen schon unter ihre fünf bis zehn Damasttischdecken gekrochen und eingeschlafen waren, stopfte Friedrich noch mit Seidenteppichen und Kaschmirschals die Löcher im Dach. Ehe er zu Bett ging, gab er den Bettlern, die er in seiner Scheune wohnen ließ, einige Münzen. Und manchmal einen Silberteller. Er dachte bei sich: „Es geht mir nicht gut, aber anderen geht es nicht besser. Es wird schon wieder werden. Und wenn nicht, dann eben nicht.“
Wenn Friedrich sonntags morgens den Gottesdienst besuchte, gingen seine Geschwister wie ein militärisches Gefolge hinter ihm. Kaum hatte er die Schwelle der Kirche überschritten, so erhoben sich alle Leute, auch die ganz alten. Die Männer verneigten sich, die Frauen beugten sich etwas vor und lächelten verschämt. Hinter seinem Rücken hörte Friedrich, wie getuschelt wurde: „Ach ginge es uns nur so gut wie Friedrich dem Reichen. Er hat alles, was einer zum Leben braucht. Wir sind so arm und er ist so reich.“ Ja, das waren die früher so reichen Bauern und ihre früher so hochnäsigen Frauen, der früher so eingebildete Lehrer und der früher so hochmütige Pfarrer. Mitten unter ihnen saßen Leuthold und Romuald. Leuthold war nur noch halb so dick wie einst der dünne Romuald dünn gewesen war. Den dünnen Romuald sah man kaum noch. Seine Rippen stachen eckig hervor unter der faltigen durchsichtigen Haut. Sobald Friedrich die beiden ansah, schauten sie dumpf zu Boden. Am liebsten hätten sie sich unter der Kirchenbank versteckt. Aber an den Abenden, wenn die Nachbarn schon schliefen, schlichen sie sich zu Friedrichs Schlößchen. Sie rieben ihre Gesichter mit Holzkohle ein und färbten ihre Haare mit Pottasche. So mischten sie sich unter die Bettler und versuchten ein paar Brocken zu ergattern. Sie hatten eine Heidenangst davor, daß Friedrich sie erkennen könne. Friedrich tat so, als hätte er sie noch nie im Leben gesehen und warf ihnen Silbermünzen zu.
Als das Frühjahr kam, saß Friedrich oft nachts rittlings auf dem Dach. „Ich habe nichts gelernt,“ dachte er, „oder jedenfalls noch nicht genug. Aber ich bin noch jung und irgendwann werde ich wissen, was mein Vater wußte und was Großvater wußte und noch mehr. Es gibt unendlich viel, was ich noch erfahren und begreifen möchte. Warum war ich ärmer als andere ? Warum bin ich jetzt ärmer als ich früher war und bin dennoch reicher als alle anderen ? Warum ist Gold manchmal so wertvoll und manchmal so bedeutungslos ? Warum ist der Mond kugelrund, jedenfalls an einigen Tagen, und unsichtbar an anderen ? Warum sind die Wolken höher als das Meer und der Mond höher als die Wolken?“ Irgendwann schlief er ein, den Kopf auf den Schornstein gelegt, aus dem der blaue Rauch emporwehte und mit ihm der Geruch der brennenden Weidenzweige.


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