Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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Leseprobe zu:
Geschichten, zu denen nichts zu sagen ist

Das Feuer


"Die Welt geht unter! Bei Ihnen auch?", rief ihm der Junge in dem gelb-roten Hemd mit der breiten ARIZONA-Schrift zu, als er noch unterhalb der Autobahnbrücke stand, auf die schnell ziehenden Wolken starrte und hoffte, für einen Augenblick die verfinsterte Sonne zu sehen, aber daraus wurde nichts. Zwar schalteten sich die Straßenlaternen vollautomatisch ein, aber es war ein gelinder Wechsel zwischen grauem Regentag und einem Vorabenddämmer, nichts Spektakuläres. Nicht dieser Himmel, den sie zu sehen bekam, zur gleichen Zeit, zweihundert Kilometer weiter südlich: voller Lila, Violett, Schwarz und Grün. Nicht dieses unruhige Muhen der Kühe und aufgeregte Lärmen der Vögel Minuten vorher, das dann still wurde in dem minutenlangen Dunkel, absolut still, wie eben nach dem Ende von allem. Sie hatte ihr erstes Kind mit zwanzig bekommen und Anfang dreißig die Krankheit, die sie zerfraß, Schub für Schub. Sie hatte eine sehr einfache Vorstellung darüber, wie alles gekommen war: "Ich bin ein Opfer des Krieges. Mein Mann ist vielleicht auch eine Art Opfer, aber er hat nur ein paar begrenzte Läsionen davongetragen, kleine Närbchen und Außenhautstiche. Aber ich bin mitten drin gewesen, bis es mich in Fetzen gerissen hat, all das Geschrei und die Tränen und Ausbrüche." Als Ärztin wußte sie, daß es für ihr Leiden noch keine Medikamente gab und auf absehbare Zeit hin auch nicht geben würde, außer etwas Aktionsmache und Schmerzabschwächung, und daß sie in zwei oder drei Jahren ein kraftloses Bündel sein würde, mit künstlichen Gelenken, eingebuchtet in einen Rollstuhl und angeschirrt an die genervte bis gleichgültige Fürsorge ihrer Angehörigen und der Leute von den bezahlten Hilfsdiensten.

Schon in ihrer besten Zeit hatte sie nicht allzuviel auf Kleidung gegeben, hier eine graue, da eine schwarze Hose, aus dem Kleidersack oder Zweithand, und die tagelang ungewaschenen und nur im Vorbeiflug durchgekämmten Strähnen hängen herunter auf eine auch nicht allzu blütenweiße Windjacke. Jetzt wurde sie endgültig die graue Maus im Rollstuhl. In dem Sanatorium sagte ihr der Arzt gleich beim ersten Gespräch: "Lassen Sie sich nicht so gehen, Sie sind dafür noch zu jung. Zeigen Sie Ihrem Mann, was in Ihnen steckt oder meinetwegen zeigen Sie es anderen Männern. Aber bewegen Sie sich, machen Sie auf, lassen Sie es zu." Sie hatte geschwiegen, ihn, wie sie glaubte, durch ihr Schweigen ermuntert, mehr zu sagen, aber mehr war nicht, das mußte reichen an Anregung.

Natürlich war Alexander ein Macho-Mannomann und, hätte man ihm das vorgehalten, so hätte er nur fies-fröhlich gelächelt, wie er das ohnehin immer tat und vielleicht sogar geantwortet: "Ich danke Gott, daß ich nicht Samuel Weichbrot bin. All diese schwachen Typchen sind völlig aus der Mode. Gefragt ist der Mann, der ein Mann ist." Es war dieses unverschämte, aber weder dumme noch böse Lächeln, das sie gleich becircte, und sein schöner Körper, ja vielleicht berührten sogar seine Klamotten einen Nerv in ihr, diese Masche, sich mit einem Hauch von Exzentrik, Obszönität und Landedelmännischem zu kleiden und damit mit allem, womit sie nicht dienen konnte. Er sprach mit ihr, schob ohne langes Federlesen und Debattieren ihren Rollstuhl durch den Park der Krankenanstalt und über das Kopfsteinpflaster des auf seine Verschlafenheit und Weltenferne so stolzen Residenzstädtchens. Sogar als ihr Mann zu Besuch kam, zeigte er sich, ließ sich von ihr vorstellen, "das ist Herr Burbach, ein Mitpatient, ihm verdanke ich es, wenn ich hier noch nicht komplett verblödet und verzweifelt bin", "ist doch nicht wahr, ich verdanke Ihnen viel mehr, als Sie mir. Und außerdem müssen Sie sich eher bei Ihrem Mann bedanken." Sie spürt die böse Zweitbedeutung, die dieser Satz hat, aber ihr Mann reagiert nicht auf einen wie Alex oder auf das, was so einer sagt, auch nicht, als der noch eins nachlegt: "Sie haben eine tolle Frau. Seien Sie Gott dankbar, daß es so ist und wenn es so bleibt." ...

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