Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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DAS BLUTMEER, DIE TREPPE AUS GLAS

„Wissen Sie, Herr, die Geschichte, die ich Ihnen erzählen will, hat wenig Erfreuliches und vielleicht nicht einmal viel Besonderes. Aber es ist die Geschichte von drei Männern, die ich sehr verehrt und sehr geliebt habe. Ich habe nichts vergessen, keinen Tag, den wir zusammen waren, kein kleines Ereignis, kein Lächeln und keinen Fluch. Ich war noch sehr jung damals, gerade vierzehn Jahre. Aber selbst das, was ich damals nicht verstanden habe oder selbst heute noch nicht verstehe, habe ich nicht vergessen. Und vielleicht werden auch Sie einiges davon im Gedächtnis behalten und Ihren Kindern erzählen, wenn Sie zurückgekehrt sind in Ihre Heimat."

Der alte Mann, der mir dies sagte, hielt einen Augenblick inne und lehnte sich zurück. Er blickte auf mich oder vielleicht durch mich hindurch, als sähe er an der Wand hinter mir in bunten Schattenbildern noch einmal sein ganzes Leben. Seine Augen, so grau wie seine Haare und der Bart, an dem er gedankenverloren zupfte, funkelten in dem Halbdunkel des Innenhofes. Er stand auf, ging einige Schritte herum und setzte sich wieder. Es wurde schon dämmerig. Bald würden über uns am Himmel die ersten Sterne hervorkommen. Der Mann hatte mir gesagt, er heiße Pablo de la Vuelta. Er war der Wirt jener Herberge für Wanderer, in die ich nach einem Sturz vom Pferd vor drei oder vier Tagen eher tot als lebendig gebracht worden war. Ich hatte mich als Señor Rodolfo Vago vorgestellt, Kaufmann aus Verona in Oberitalien, und hatte die üblichen belanglosen Händlerredensarten gebraucht, hinter denen ich meinen eigentlichen Auftrag zu verstecken gewohnt war.

Ich war nur durch diesen Unfall zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben nach Fregenal de la Sierra gelangt, in diese kleine verschlafene Stadt an der Kreuzung großer Straßen. Hier war das weiße fröhliche Andalusien ebenso zu spüren wie die schwere, in Schwarz und Grau gehüllte Estremadura. Der Marktflecken gefiel mir trotz seiner Abgeschiedenheit oder gerade wegen dieser. Denn die Spürhunde und Gerichtsschergen des spanischen Königs begannen gerade in diesem Jahre, im Jahre des Herrn 1587, eine große Jagd auf vermeintliche und tatsächliche Feinde. Da war es besser für einen wie mich, eine Zeit hier zu verweilen und im Halbdunkel abzuwarten. Allerdings beschlich mich immer wieder ein unbestimmtes Angstgefühl und die böse Furcht, jemand könnte mich verdächtigen oder ich könnte mich verraten haben durch eine unbedachte Äußerung.

Pablo de la Vuelta blickte mich fragend an, als warte er auf ein Zeichen, daß er weitersprechen solle. Ich nickte kurz. „Die drei Männer,“ begann er erneut, „denen ich damals diente, vor siebenundvierzig Jahren, und deren Andenken ich immer noch bewahre, waren die bemerkenswertesten und tapfersten Ritter im ganzen Königreich. In Kastilien und León, in Andalusien und in den fernen neuen Ländern unserer spanischen Krone - nirgends gab es Ritter von solchem Mut, solcher Sanftmut und solcher Demut. Nahezu jeder von uns ist nur für seine engste Umgebung groß oder weniger groß. Aber diese drei, ich bin mir ganz sicher und ganz fest in meiner Meinung, waren in ihrem Land und in ihrer Zeit von niemandem zu übertreffen. Auch wenn sie ganz und gar unbekannt waren und kaum jemand von ihnen wußte und kaum jemand von ihnen sprach.

Es war ein Morgen im August, fast schon zu spät im Jahr für große Unternehmungen, als wir Belverano verließen - die drei Ritter und ich, fast noch ein Kind und doch zum Pagen geworden durch den Großmut und die Güte meiner Beschützer. Es ist wahr, niemand von uns hatte einen berühmten Namen, und die Namen, die wir getragen hatten in unserem Dorf, warfen wir ab wie alte mottenzerfressene Umhänge. Eine ganze Zeit, bis wir uns durch Taten einen Namen gemacht und unsere neuen Namen gefunden hatten, nannten wir uns nach unserem Heimatort: Don Francisco de Belverano, Don Hernando de Belverano, Don Juan de Belverano, Pablo de Belverano. Die Ritter auf ihren Pferden hatten Schwerter und Lanzen, die im Sonnenlicht schimmerten und kleine Blitze warfen. Ich dagegen besaß nur einen Weidenstock, eine an einem Bastgurt befestigte Weidenflöte und einen widerborstigen Esel, den ich Don Agustín de la Bandera taufte nach einem Pächter, der mich oft genug mit erhobenem Stock und wüstem Geschrei aus seinem Obstgarten vertrieben hatte. Ich war glücklich und voller Zuversicht.

Von einem Hügel aus blickten wir auf Belverano zurück: die in den Maurenkriegen zerstörte und nie wieder aufgebaute Burg, die kleinen Oliven- und Weinfelder, die weiten kahlen Hänge, auf denen Schweine und Ziegen weideten. Wir rissen uns los von diesem Anblick, den wir tausendfach kannten. Wir wandten uns gleichzeitig um, wie von einer geheimen Vereinbarung gelenkt, und gingen schneller. Ja, wir gingen, denn die Ritter hatten beschlossen, ihre Pferde für den Kampf zu schonen und sich selbst durch harte Fußmärsche für den Kampf zu stählen. Daher schritten sie neben ihren Pferden wie die Pilger des Heiligen Jakobus auf ihrem langen langen Weg. Und ich, den der boshafte Esel vielleicht ohnehin längst abgeworfen hätte, trottete neben dem grauen Teufel und versuchte, ihn mit einem Dornenstock und meinem Flötenspiel vorwärtszutreiben und auf dem Weg zu halten. Wir gingen, Tage und Tage durch unsere Heimat Estremadura, dieses heiße und trockene, von der Sonne geschlagene und vom Regen verschmähte Land. Wir wollten zum Meer, um berühmt und reich zu werden in fremden Ländern. Nach mehr als zwei Wochen erreichten wir die Grenze, wo die Provinz Estremadura endet und Spanien auch. Als wir jedoch von den portugiesischen Soldaten Durchlaß verlangten durch das Hinterland bis nach Oporto oder bis zum siebenhügeligen Lissabon, da wurden wir abgewiesen und mit dem Auspeitschen bedroht. Wir kehrten um, von einigen Strolchen verlacht. Sie riefen uns höhnisch nach: „Wer sein Glück machen will, der muß mit uns ziehen. Kommt mit nach Süden ans Meer oder nach Norden ans Meer! Wir stehlen uns ein paar Schiffe und segeln nach Indien.“ Aber statt uns willenlos mittreiben zu lassen in dem breiten schmutzigen Strom der Abenteurer, die damals abwärts und aufwärts durch die Estremadura zogen, hielten wir Kriegsrat. Alles wurde vorgeschlagen, geprüft, verworfen, bis Don Hernando zu bedenken gab, daß dort, wo die vielen ihren Weg nehmen, fast nie der Ruhm und das Glück zu finden sind. Da uns der Durchzug nach Westen versperrt war, da wir nicht mit den Räubern als Räuber enden wollten, beschlossen wir, nach Osten zu ziehen. Wir wollten die Sieben Städte von Cipolla suchen, in denen fast alles Gold ist, nur die Straßen sind aus Silber, und was in den goldenen Rinnsteinen fließt, ist Wein und kein gewöhnliches Wasser. Niemand hatte diese Städte gefunden, in Spanien nicht und nicht in den neu entdeckten Ländern der Indien. Mancher hatte dreist fabuliert, eine der Sieben Städte entdeckt zu haben, und der eine oder andere hatte sogar drei oder vier angeblich betreten oder von fern gesichtet. Aber niemals hatte jemand auch nur die Behauptung gewagt, er wisse, wo sich alle sieben Städte zusammen befänden. Was aber wußten wir - die Caballeros und ich? Wir wußten zumindest, daß die bisherigen Wege falsch gewesen waren und in die Irre führten. Und wir hatten eine unglaubliche Gewißheit, die Sieben Städte zu finden und unser Glück zu machen.

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