Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

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TAGEHEFT

ZUM TAGEHEFT
In den Tageheften habe ich seit dem 1. Mai 2011 Tag für Tag festgehalten, was mir wichtig war - in einem oder mehreren Sätzen. Hier im Netz sind diese Texte seit April 2013 erschienen. Das erste Tageheft (2011-2012) ist 2016 als Buch erschienen, das zweite (2013-2014) 2017, das dritte (2015-2016) 2018, das vierte (2017-2018) 2019 (siehe unter AKTUELLES).

31. Dezember 2020
Mes amies de jadis sont devenues fantômes.

30. Dezember 2020
Wir alle: anders und deshalb einsam.

29. Dezember 2020
Außerhalb einiger Vulkane und einiger Sonnen und unserer geliehenen Wärme alles grausam kalt.

28. Dezember 2020
Staaten, die aus Kriegen als Gewinner hervorgehen, und sich so unmöglich machen. Einzelne, Ausnahmen, die aus einem Krieg einen Gewinn mitbringen, der andauert.

27. Dezember 2020
So banal wie richtig, daß mit dem Leben das Sterben beginnt und daß dies unbezweifelbar ist. Das Sterben als Beginn des Lebens ist möglich - nicht mehr und nicht weniger.

26. Dezember 2020
Was bleibt von den in den Wanderungen verlorengegangenen Stämmen, von den in alle Winde vertriebenen Dörfern, von den Netzverbindungen, die geheim überlebten und vergessen wurden, weil sie geheim waren, von den großen Familien? Ein letzter, noch stehend, fluchtunfähig, nachfolgelos.

25. Dezember 2020
Wer ungerührt, ohne Wut und Tränen durch das verlorene Land geht, der hat keine Wurzeln dort. Er ist es nicht wert, auch nur eine Sekunde dort zu sein. Sein Schweigen entschuldigt ihn nicht, aber immerhin ist es erträglicher als jedes weitere Wort.

24. Dezember 2020
Der Begriff „Volksverhetzung“ suggeriert eine geist- und wehrlose Masse, die nur Objekt und Opfer von ihr hoffnungslos überlegenen Beeinflussern ist.

23. Dezember 2020
Kann man über eine Satire, die den Herrschenden schmeichelt, lachen? Zumindest macht sich der Satiriker lächerlich und zu einem sogenannten „Satiriker“.

22. Dezember 2020
Es zeigt seine Volksverbundenheit, wenn ein gewesener Parteiführer und Kanzlerkandidat seine Frau mit einem Spitznamen ruft, mit dem andere die dunkelste Stelle der Frauen bezeichnen.

21. Dezember 2020
„Huhu, lange nichts von dir gehört“ teilt mir der vor Jahren in Montpellier verstorbene Dichter Ulrich Zieger mit - beziehungsweise der Test-Trading-Spammer, der sich seiner elektronischen Identität bemächtigt hat.

20. Dezember 2020
Daß der spätere Serienkiller einige Monate, ehe er mit einem zwölfjährigen Mädchen begann, in der Dating-Schau „Herzblatt“ gewann, läßt mehrere Möglichkeiten zu. Auch die, daß er verbittert war wegen jener Frau, die ihn als Sieger auswählte, aber sich weigerte mit ihm auszugehen. Er wirkte unheimlich.

19. Dezember 2020
Als aussätzig und überflüssig brandmarken sich die, die sich unter Bedingungen des Friedens weigern, einen Menschen, der ein Faschist sein mag, höflich zu begrüßen und mit ihm zu sprechen.

18. Dezember 2020
Aristokratischer Hochmut war immerhin ein Grund, die Nazis als pöbelhaft zu verachten und besser als die Anbiederung etlicher Adeliger an das Volksgetümel. Bekanntlich sind nicht alle Adeligen Aristokraten und nicht alle Nicht-Adeligen keine Aristokraten.

17. Dezember 2020
Die Argumente der anderen Seite, sie mögen so falsch sein wie sie wollen, nicht einmal zu nennen, sondern dreist zu behaupten, es gäbe sie nicht, ist der tiefste Tiefpunkt in der Verlogenheit und Verkommenheit eines Mediums.

16. Dezember 2020
Wer einem Diktator in allen Dingen nur das Finsterste vorwirft, der vernebelt dessen besondere Gefährlichkeiten in einem allgemeinen Brodem.

15. Dezember 2020
Pedro Faura, 1975 großartig auf seinem Zenit als Sänger, wollte Arbeiter und Bauern zusammen marschieren sehen, um das Spanien von Verrätern und Mördern zu säubern. Zu dem ersten kam es nicht in genügender Zahl und Kraft und das zweite blieb in den Anfängen stecken. Festzustellen, ob diese Säuberung sauberer als die historischen Beispiele und rein von Grausamkeiten sich vollzog, blieb ihm so erspart.

14. Dezember 2020
Lärm fördert die Vergessensleistung.

13. Dezember 2020
Die Empfindsamen und Sensibelchen benötigen eine verständnisvolle doppelte Ration an harter und klarer Wahrhaftigkeit. Nur der Schmerz schlägt durch bis zur Erkenntnis.

12. Dezember 2020
Gretchens frühvergreister verrotteter Anhang zeigt dieselbe Wehleidigkeit und Schmerzüberempfindlichkeit wie jene Einst-oder-immer-noch-Parteigenossen, die sich seit Kriegsende empörten, wenn die Naziverbrechen untersucht und öffentlich angeprangert wurden. Ähnlich auch seit 1990 das Geschrei des Stasi-Filzes und seiner Nachfolger, ähnlich die Attacken allzuvieler Tschechen und Polen, die die Vertreibungsmorde totschweigen oder rechtfertigen wollen, auf jene mutigen Lokalpolitiker, die an die Verbrechen erinnern.

11. Dezember 2020
Wenn das eine Drittel der Kinder darauf vorbereitet wird, die Macht zu übernehmen und das zweite Drittel der Kinder darauf vorbereitet wird, die Macht abzugeben, bleibt nur, das dritte Drittel vorzubereiten auf einen Kampf, für den sie besser gerüstet sein könnten, aber nicht sind.

10. Dezember 2020
Welchen Sinn hat es, diese armen Menschen zu verurteilen, die nicht zweifeln oder nicht glauben, da doch der Zweifel wie der Glaube eine Gnade sind, die wir unverdient empfangen und uns unverdient zugestehen müssen?

9. Dezember 2020
Immer ehrlich NEIN zu sagen ist der sicherste Karriereschutz.

8. Dezember 2020
Unser Schmerz: Wir sind unperfekte Inseln.

7. Dezember 2020
Wir sind in der unterlegenen Opposition und nutzen diese Unterlegenheit, um so stärker zu werden. Würden sich die Verhältnisse grundlegend ändern, wären dann die Antifanten vor uns auf den Knien, um Hilfe bittend und schwarz-rot-goldene Fähnchen schwingend, oder würden sie demonstrativ denglisch stammeln, um weiter zu provozieren und weiter Opposition bleiben zu dürfen?

6. Dezember 2020
Um die besser in ihren Antrieben zu verstehen, die blind der Herde folgen, sollte der Ausgeschlossene sich erinnern, wie er anfangs auch vor allem dazugehören wollte. Nur das Scheitern dieser Pläne half ihm weiter.

5. Dezember 2020
Erst spät nach dem Ausschluß kultiviert der Ausgeschlossene sein Schicksal als Privileg und Heiligungszeichen.

4. Dezember 2020
Man muß strikt trennen zwischen dem Hunger an sich (dem Wunsch, irgendein Füllgut für den Magen zu erreichen) und dem Hunger nach etwas (nach Landbesitz, nach Erkenntnis, nach Abenteuern …), also einer zielgerichteten Gier. Der Begriff des HEISSHUNGERS beschreibt sehr gut die dabei gegebene ansteigende Temperatur, während beim Hunger an sich die eigene Gefühlswärme trotz kurzer Aufwallungen in eine matte Kälte abfällt.

3. Dezember 2020
Jammere nicht, beklage dich nicht, sondern entscheide dich, ob du den Preis bezahlen willst für Anpassung an die Herrschenden und die herrschenden Vorurteile. Entscheidest du dich dafür, dann reihe dich ein in die Warteschlange der Bewerber für höhere Verwendung.

2. Dezember 2020
Das vollständige Vertrocknen garantiert einen ein wenig länger anhaltenden Anschein von Unsterblichkeit.

1. Dezember 2020
Auch die Immortelle nur eine kleine schwache Blume.

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