Rolf Stolz     · · ·     Literatur und Photographie

Romane · Kurze Prosa · Lyrik · Essays · Kinderbücher · Theatralisches
Künstlerische Photographie · Kopier-Kunst · (Material)Bilder



BEGRÜSSUNG EINES ENDES
Aphorismen, philosophische Verstreuungen, Augenmerke

Vorbemerkung

Dieser Band vereinigt Texte aus einem recht langen Zeitraum zwischen dem Jetzt und den späten siebziger Jahren "unseres" zwanzigsten Jahrhunderts, jener bis auf weiteres halb lebendigen und halb vorüberverwesten, halb erinnerlichen und halb spukhaft gewordenen Endstrecke des zweiten nachchristlichen Milleniums. Nach dessen Ende scheint es vielen, als müßten wir die Zeitrechnung nicht allein auf "zweitausend Jahre nach Christus", sondern auch auf "zweihundert Jahre nach dem Christentum" einstellen. Dieser Anschein ist falsch, ihm Glauben zu schenken ist lebensgefährlich, aber zweifellos ist dieses Scheinbild äußerst lebendig und prägt unser Bewußtsein. Ich habe die ursprüngliche Sammlung, auf die sich der einleitende Aufsatz von Claus Sommerhage bezieht, ergänzt um einige wenige neuere Stücke, welche meist gegen Ende des Buches zu finden sind. Sie wiederholen, ergänzen, präzisieren - aber auch dort, wo sie den früheren Einzelbefunden widersprechen (oder zu widersprechen scheinen), stützen sie die prinzipielle Diagnose und Prognose. Ausdrücklich und nachdrücklich: Mein Dank an diejenigen, die wie Claus Sommerhage oder Dr. Stefan Majetschak vom Düsseldorfer Philosophie-Verlag PARERGA (unsere geplante Zusammenarbeit scheiterte, wie so manches in der Sonntags-Kulturnation Wunderrepublik Deutschland an der Verweigerung einer Anschubfinanzierung durch die Kulturfunktionäre) mich ermutigt haben zu einem anderen, neuen und eigenen Weg außerhalb der gesicherten Beschränktheit der Schulphilosophie.

Rolf Stolz, Im Sommer 2003


Professor Dr. Claus Sommerhage (1950-2003:
Einige Bemerkungen zu "Begrüßung eines Endes"
von Rolf Stolz

Die Texte, die Rolf Stolz unter dem paradox scheinenden Titel "Begrüßung eines Endes" vorlegt, wirken anfangs wie Gedankensplitter oder Notizbuchfindlinge: essayistische Bruchstücke, mehr oder weniger zusammenhanglos gereiht und vereint eher durch den Stilwillen des Autors als im Verständnis des Lesers. Diesem geht erst allmählich, bei forcierter, vertiefender Lektüre auf, daß es sich dabei nicht um ein intellektuelles Pasticchio oder die zweifelhaften Lebensweisheiten des FAZ-Magazins handelt, sondern um genuin literarische, ja poetische Gespinste, deren eigentümliche Poetizität auf einen Überlieferungszusammenhang verweist, dessen neuere Geschichte in der Frühromantik beginnt, genauer: mit der Gattungsästhetik des frühromantischen Fragments. Ein kurzer Exkurs sei erlaubt - ein Umweg ins Zentrum des Buches.

Fragmente sind zunächst einmal unvollständig überlieferte oder solche Texte, die nicht vollendet wurden. Aber es gibt auch Fälle, wo ein Autor mit voller Absicht und von vornherein einen Text als Fragment konzipiert und mit dem bruchstückhaften, unabgeschlossenen, offenen Charakter der Form bestimmte ästhetische und programmatische Absichten verfolgt. Namentlich das frühromantische Fragment ("Athenaeum") ist hierhin deutlich dem Aphorismus verwandt, und zwar hinsichtlich des Umfangs - von wenigen Zeilen bis allenfalls anderthalb Druckseiten - ebenso wie in bezug auf die zugespitzte, pointierte, frappierende Stilistik, die beide Formen verlangen. Diese Familienähnlichkeit zwischen Fragment und Aphorismus läßt sich wohl am besten so bestimmen, daß zwar jedes Fragment sein Aphoristisches hat - wenngleich nicht jeder Aphorismus (siehe FAZ) ein Fragment im Sinne von Novalis oder Schlegel (und Stolz) ist.

Das griechische Verb ,aphorizein' übersetzt man gewöhnlich mit ,abgrenzen' oder ,begrenzen'. Es tritt dadurch in eine merkwürdige Nähe zu dem aus dem Lateinischen stammenden deutschen Fremdwort ,definieren', das ja unter anderem ebenfalls ,festsetzen', ,beschränken' und ,abgrenzen' bedeutet. Freilich ist das Resultat der aphoristischen ,Definition' gerade nicht begriffliche Eindeutigkeit, Klarheit und Präzision, sondern vielmehr Verwirrung, Unsicherheit oder auch Ratlosigkeit: Der Aphorismus zielt nicht auf eine exakte Abgrenzung von Begriffen (wie die Definition), sondern auf eine Abgrenzung vom üblichen Gebrauch der Begriffe sowie von der konventionellen Wahrheit, die diese zu verbürgen vorgeben; er zielt damit gleichzeitig auf mindestens Zwei-, wenn nicht Vieldeutigkeit der von ihm behandelten Gegenstände und Begriffe.

Die hier schon im Ansatz erkennbaren besonderen Affinitäten zwischen frühromantischer Ästhetik und den Gattungsbedingungen des Aphorismus bzw. des Fragments, die sich im gegensystematischen Drall sowie in der Tendenz zu spannungsvoller Mehrdeutigkeit berühren, - diese Affinitäten werden vielleicht noch deutlicher und vielfältiger, wenn man nunmehr in einem zweiten Schritt den Aphorismus mit dem Sprichwort vergleicht. Jedermann kennt den frohgemuten Satz: "Wer suchet, der findet." Auch Novalis kannte ihn - gab ihm aber in seinem 22. "Blüthenstaub"-Fragment eine gänzlich neue, aphoristisch-irritierende Richtung: "wer sucht, wird zweifeln" (und am Ende ein Ende begrüßen: Guter Anfang!). Die Unterschiede zwischen beiden Aussagen liegen auf der Hand, ich will sie aber dennoch ein wenig formalisieren, und zwar dergestalt, daß die im folgenden genannten Eigentümlichkeiten von Novalis' Fragment immer auch Eigentümlichkeiten seiner ästhetischen Position bezeichnen, die mit der Form der Stolzschen Texte aufs innigste verwandt ist. "Wer suchet, der findet" also: ein beruhigender, dem gesunden Menschenverstand lieber, weil ihn bestätigender Gemeinplatz. - während "Wer sucht, wird zweifeln" doch eher verunsichernd wirkt oder gar ein wenig aggressiv machen kann, eben weil dadurch jene Common-sense-Gewißheit erschüttert wird; eine Binsenweisheit das eine - das andere ein Paradox, eine Provokation; das Sprichwort schließt einen Gedankengang eher ab, der Aphorismus setzt ihn allererst in Gang; jenes beruht auf dem (anonymen) Konsens einer kulturellen Gruppe, dieser auf der subjektiven Eigenwilligkeit seines Autors; das Sprichwort gibt vor, einen quasi objektiven Tatbestand zu resümieren (so war und wird es immer sein), während der Aphorismus eine ganz subjektiv gebundene Erfahrung wiedergibt; das eine ist volkstümlich, allgemeinverständlich und gerät leicht in die Nähe der Banalität, das andere, intellektuell und exklusiv, läuft zuweilen Gefahr, sich esoterisch der Mitteilbarkeit zu entziehen; dort ein festes System von Werten, Normen und Regeln (zumeist einer tradierten Lebensweisheit), hier eben gerade die Infragestellung von Regeln, Normen, Werten und Systemen; und schließlich: das Sprichwort will Antworten geben, und der Aphorismus geht ganz im Gegenteil darauf aus, Fragen zu stellen. Faßt man nun die zahlreichen Gegensatzpaare zusammen, so ergibt sich als offenkundige Verwandtschaft zwischen der Poetik des Aphorismus bzw. des Fragments und der Stolzschen Position mindestens zweierlei: einerseits der Affront, die Mobilmachung gegen eine selbstgewiß erstarrte, die Einzelerkenntnis durch das System suspendierende, alles und jedes definitorisch bändigende Normen- und Wertewelt; und andrerseits der Drang zur intellektuellen Provokation, zum Paradox als einem Mittel, das Unterste nach oben zu kehren und die scheinbar stabilen Verhältnisse durcheinanderzuwirbeln: "Jetzt sind literarische Saturnalien", verkündet Novalis ausgelassen und dennoch genau, denn während des römischen Winterfestes mußten die Herren ihre Sklaven bedienen bei einem Gelage, dessen Kosten der Staat trug. (Freilich dauerte das Fest nur einen Tag . . .) Ein drittes kommt - neben Gegensystematik und provokativem Perspektivismus - noch hinzu, nämlich die Tendenz zum strikten Subjektivismus, dazu also, die sich selbst reflektierende Subjektivität zum Ausgangspunkt von Erkenntnis zu nehmen - auch und gerade dort, wo andere, eine Gruppe, eine Gesellschaft sich auf ein beruhigend solides, tröstlich-verbindliches Erkenntnissystem geeinigt und festgelegt haben.

All dies trifft nun zweifellos auf "Begrüßung eines Endes" zu - und trifft es dennoch nicht ganz; denn die Überlieferung einer Form ist naturgemäß nur das eine, ihre aktuelle Ausprägung jedoch nicht nur das andere, sondern unter Umständen das entscheidende. Einerseits also gewinnen Stolz' Fragmente manchmal eine wahrhaft verblüffende Nähe zur romantischen Tradition, und Gedankenigel wie diesen: "Stereotype sind sekundäre Systeme, denen das primäre System, die Vor-Sätzlichkeit, aktuell fehlt. Dies sind die tauben Nüsse, aus denen keine Geschichtlichkeit zu entwickeln ist", hätte Friedrich Schlegel bedenkenlos, und amüsiert, ins "Athenaeum" eingerückt. Andererseits vollführten die Frühromantiker ihre Gedankenequilibristik in dem zuletzt doch beruhigenden Bewußtsein, das Netz des transzendentalen Idealismus unter (oder über?) sich zu haben, und Stolz' Kreuz- und Querdenkerei (ohne Fangschnur an der Hüfte) hätte ihnen wohl ein wenig angst und bange gemacht. Ein Blick auf Botho Strauß, dessen zahlreiche Fragmentsammlungen zu den Voraussetzungen von "Begrüßung eines Endes" gehören (und die natürlich ihrerseits tief in der Romantik verwurzelt sind), mag den Vergleich aktualisieren. Einerseits also, hier wir dort, bei Strauß wie bei Stolz, eine Mischung aus Novelletten und Reflexionen, Kritik und Kommentar; andererseits jedoch - und das scheint mir entscheidend - zeigt sich bei Strauß spätestens seit Anfang der 90er Jahre ein reflexhaftes Zurückzucken vor den tendenziell annihilierenden Konsequenzen seiner eigenen Reflexionsintelligenz, ein Aufbäumen, oder Abschlaffen, das dann nur noch - ganz nach dem Vorgang Friedrich Schlegels, der sich nach 1815 Friedrich Schlegel von Gottleben nannte - Zuflucht sucht im Ewig-Urgründigen: im Tragischen, im Mythos, in Gott . . . Ganz anders Stolz; nicht etwa, daß er vor Fragen, die Strauß stellt - etwa der nach dem Göttlichen (vgl. 39f.) -. ausweichen würde, im Gegenteil: er stellt sich ihnen - aber er hält stand und leugnet nicht die Unwiderruflichkeit der Verluste. Wieder-Holungen: zu erinnern, zu bedenken, zu prüfen - keine Wiederholungen! Wohin gehen wir? Immer weiter - nur nicht nach Haus! Denn, wie es bei Christoph Ransmayr heißt: wer sein Ziel gefunden hat, der schreibt keine Reisetagebücher mehr. Und obwohl resümierende Formeln für Bücher immer ihr Fragwürdiges haben - hier ist eine: "Begrüßung eines Endes" ist ein intellektuell-romantisches und, genau in diesem Sinn, poetisches Reisetagebuch: überaus subjektiv, aber exakt, so distanziert wie eindringlich, und auf stupendem stilistischen Niveau unterwegs in alle vier (oder acht? oder sechzehn?) Richtungen der Windrose. Man möge es drucken, und zwar unverzüglich: nicht nur die Flaneure warten darauf - auch die Wanderer.

* * * * *

 zum Seitenanfang